
Erste Liebe
Als ich den Gartenweg entlangging, da kam es wieder, dieses merkwürdige
Gefühl. Dieses Gefühl von Minderwertigkeit, von Kleinsein, gepaart
mit Trotz.
Ich war lange nicht mehr in der Gegend gewesen, hatte sie bewusst gemieden.
Aber 250.000 DM Honorar für ein halbes Jahr und ein paar Hilfskräfte,
die hatten mich wieder hierher gebracht.
Der Rhododendron war höher, 26 Jahre sind auch eine lange Zeit, aber
die Steine lagen noch genauso wie ich sie in Erinnerung hatte.
Einfache Feldsteine, in der Mitte ein wenig abgetreten, so dass das Wasser
vom letzten Regen immer in die Mitte lief und dort stehen blieb.
Die Klingel, ein Messingknopf in einer ehemals jugendstil-verzierten Messingovale,
war immer noch die gleiche.
Der Klingelton damals wie heute von außen nicht hörbar...
Sollte man noch einmal drücken?
Hatte ich mich schon vor 26 Jahren gefragt.
"Guten Tag, Sie wünschen?" Die Frau hinter dem durch die Kette
auf 14 cm verengten Türspalt war ebenso altmodisch wie ihre Anrede.
Der Tag war gut und die Sonne schien und wünschen, wünschen kann
man sich so viel.
"Mein Name ist Kowalski, Herbert Kowalski vom Ingenieurbüro Fling,
ich glaube, wir haben telefoniert?"
"Ach ja Sie kommen wegen dieser Lärmgeschichte."
"Genau gnädige Frau, wegen der lärmtechnischen Untersuchung
aufgrund des 6-streifigen Ausbaus der A45."
Gekonnt und routiniert spulte ich mein Sprüchlein ab, hundertmal geübt
und tausendmal erprobt.
Während ich noch sprach, öffnete sie die Kette und ließ mich
eintreten in jene Halle, die ich vor 26 Jahren zum ersten Mal betreten hatte,
und die nie wieder zu betreten ich ebenfalls vor 26 Jahren geschworen hatte.
"Herein junger Mann, immer herein. Und nicht so schüchtern, wenn
ich eins nicht leiden kann, sind es schüchterne Leute."
Der Mann, dem sich Herbie so unvermittelt gegenüber sah, war nicht im
mindesten so, wie sich Herbie einen Oberarzt für Anästhesie vorgestellt
hatte. Groß, fleischig und laut war er. Irgendwie mehr wie ein Metzger.
"Du willst also meine Autos pflegen, und meinen Rasen?"
Die Frage klang wie eine Drohung.
"Ich glaube schon, ich habe die Autos meines Vaters..."
"Also glaubst du oder weißt du. Ich kann Unentschlossenheit nicht
leiden."
"Natürlich weiß ich, also ich meine ich kann auch...."
"Ach ist ja egal, wenn du nicht auf die alten Karren aufpasst, dreh ich
dir den Hals um. Rasen mähen gehört auch noch dazu..."
Herbie wagte einen Einwurf: "Ich kann auch nach dem Garten..."
Es war, als habe er sich überhaupt nicht geäußert.
"Also Rasen mähen und manchmal meiner Frau zur Hand gehen, meine
Frau, sie ist etwas, sie ist etwas schwach."
Die Geste, die die Worte begleitete, bezeichnete eine Schwäche, die sich
nicht unbedingt auf den Körper bezog.
"Sagen Sie mal junger Mann, hören Sie mir überhaupt zu?"
"Natürlich gnädige Frau, ich hab nur gerade..."
"Also wenn der Wind von da drüben kommt, ist es geradezu unerträglich.
Mein seliger Mann hat immer gesagt..."
Irgendwie schien es an dem Haus zu liegen, keiner hörte mir zu, und
das lag nicht an dem Autobahnlärm.
Als die Frau einmal eine kurze Pause zum Luft holen einlegte, kam ich zu
der alles entscheidenden Frage.
"Sind sie die Hauseigentümerin?"
Einen Moment lang sah sie mich irritiert an.
"Was glauben Sie denn junger Mann, bin ich vielleicht die Putze? Natürlich
gehört das Haus mir.
Seit mein Gatte, Gott hab ihn selig, tot ist. Sieben Jahre ist das jetzt her.
"
"Ich dachte nur", sagte ich "ich hab mal hier in der Gegend..."
"Ach so ja, mein Gatte hat das Haus vor 15 Jahren gekauft. Also der Vorbesitzer,
wissen Sie, der war in Schwierigkeiten, Drogenhandel und so..."
Ich konnte mir den viel gehassten Oberarzt in vielen Posen vorstellen, aber
nicht als Drogenhändler.
"Ich kannte eine Arztfamilie, Schroth hießen die glaube ich..."
Wieder ließ sie mich nicht zu Ende kommen.
"Ach ja die Schroths, nette Leute, besonders die Frau. Haben verkauft,
einfach so an diesen Afrikaner. Aber vorher haben sie noch den Pool einbauen
lassen, na ja, ein Pool in dieser Gegend, man hörte ja tolle Geschichten.
Wir haben übrigens früher da drüben gewohnt..."
Herbie fand den Mann degoutant.
Ein Wort, das er gerade erst gelernt hatte. Gelernt von Ann-Katrin, seiner
fast Freundin, seiner fast Geliebten. Aber...
"Also hör zu, du verdienst 6,50 die Stunde, und wie viele Stunden,
das bestimme ich."
"Und hier ist es jetzt besonders laut. Ach übrigens, möchten
Sie etwas zu trinken?"
"Möchtest du etwas trinken? Ich schlage was Langes vor."
Plötzlich, nach drei Wochen, in denen Herbie gearbeitet hatte wie ein
Pferd, nahm sie ihn zur Kenntnis.
Und er nahm sie zur Kenntnis. Guter Gott, war sie schön, eine Göttin.
Klein, schlank, gar zart, rote Haare, eine Fülle roter Haare und grüne
Augen, so tief, und so grün, dass Herbie glaubte, darin ertrinken zu
können, ertrinken zu müssen.
Seine Göttin schlug etwas Langes vor.
Jetzt ist SUPERHERBIE gefragt.
Etwas Langes, -Understatement für Longdrink. Herbie kannte nur drei Longdrinks,
erstens Bier, war wohl nicht ganz passend, zweitens Kubaliebre war wohl prolo
und drittens...
Herbie trat so cool wie er konnte an die Theke der Hausbar.
"Wodka-Martini" sagte er, während er so lässig wie möglich
seine Gartenhandschuhe auf der Theke platzierte.
"Geschüttelt nicht gerührt", sagte sie, ohne eine Miene
zu verziehen,
Herbie wäre am liebsten im Boden versunken.
"Ja äh,...ich glaub schon."
Herbie suchte verzweifelt nach einem unverfänglichen Übergang.
"Wissen Sie eigentlich, das Ian Fleming wirklich beim Geheimdienst war?
Ich meine, der war wirklich der, der wusste wirklich..."
"Ja" sagte sie und sah dabei seltsam traurig aus. "Der wusste
wirklich."
"Sagen Sie mal, junger Mann, wissen Sie, eigentlich hatte ich mir das
ganz anders vorgestellt. Sie haben ja gar keine Messgeräte dabei. Wie
wollen Sie denn eigentlich den Lärmpegel messen, mit dem Zollstock da
vielleicht?"
Ich kannte diese Einwände schon lange. Bei jedem Auftrag wieder. "Sie
haben ja gar keine Messgeräte... wie will denn so eine Simulation wissen,
wie laut es bei mir ist. Also merkwürdig ist das schon."
Irgendwie schien das Haus mich zu erdrücken.
"Könnte ich jetzt vielleicht noch die Außenanlage?"
Fast wäre ich vorgegangen, hinaus auf die Terrasse am Pool. Wie damals...
Herbie war in der Garage und legte letzte Hand an den Bentley, als er das
Schluchzen hörte. Klein und verloren klang es, irgendwie abgrundtief
verloren.
Herbie war nicht sicher, ob er beim Hereinkommen das Gartentor geschlossen
hatte. Vielleicht hatte sich ein Kind in den Garten verirrt und fürchtete
sich nun. Aus dem kleinen Garagenfenster, welches auf den Garten ging, konnte
er nichts sehen.
Der Pool war von hier nicht einsehbar. Um Himmels willen, der Pool.
Wenn da ein Kind.
Herbie stürmte durch die Verbindungstür ins Haus, durch die Halle,
durch die Terrassentür auf die Terrasse. Kein Kind im Pool. Kein Kind
im Garten.
Das Schluchzen, das inzwischen nichts an Intensität verloren hatte, kam
von einem der Liegestühle.
Neben dem Stuhl auf dem Boden lag das Telefon. Zerbrochen. Im Liegestuhl lag
zusammengekrümmt wie ein Kind mit großen Schmerzen seine Göttin.
Nackt, oder fast nackt, wenn man das winzige Bikinihöschen zählte
und offensichtlich in großen Schmerzen oder großer Pein.
Ein Fall für SUPERHERBIE, jetzt nur nichts falsch machen.
"Frau Schroth, Frau Schroth, um Himmels Willen was ist denn passiert?"
Keine Reaktion.
Was würde SUPERHERBIE in dem Fall machen?
Jeder Versuch von seiner Seite, sie anzusprechen, führte nur zu neuen
Schluchzattacken.
Erste Hilfe für Führerscheinanfänger. War SUPERHERBIE ein Führerscheinanfänger?
Erstens, Opfer in Schocklage bringen.
Herbie riss entschlossen an dem Hebel, welcher den Liegestuhl in Liegeposition
brachte. Zum ersten Mal seit seinem dramatischen Erscheinen auf der Terrasse
schien sie etwas zu bemerken.
Ihre großen grünen Augen versuchten, sich auf ihn zu fokussieren,
wurden dann wieder leer.
Zweitens, Wärme, Nähe, Trost.
Warm genug war es auf der Terrasse, sonst hätte sie sich wohl nicht oben
ohne gesonnt. Aber Nähe und Trost?
Eben ein Fall für SUPERHERBIE.
Herbie hingegen fiel bei dem Gedanken, eine Frau, die er heimlich liebte,
in den Arm zu nehmen, zudem wenn sie halb nackt war, fast selbst in Schock.
Vielleicht lieber Händchen halten?
"Frau Schroth, bitte was ist denn?"
Dann tat der Schockpatient etwas, das in Erste Hilfe nicht gelehrt wurde.
Sie griff mit einer erstaunlichen Kraft nach ihm und zog ihn auf den Liegestuhl.
Während Herbie hauptsächlich damit beschäftigt war, seinen
Schock zu verdauen, das wunderbare Gefühl ihres an den seinen gepressten
Körpers zu genießen und sich gleichzeitig mit einer Hand, die andere
war auf ihrem Busen festgeschweißt, auf der Lehne des Liegestuhles abzustützen,
erzählte sie ihm alles.
Die Geschichte ihrer Ehe, wie ihr Mann sie betrog, nach Strich und Faden betrog
und auch jetzt wieder angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, er werde das Wochenende
mit einem seiner Flittchen verbringen.
Herbie war fassungslos, und auch ein wenig außer Atem. Dieser seltsame
anderthalbarmige Liegestütz hatte ihn erschöpft. Außerdem
musste er seit einer Weile sein Rückgrat nach hinten biegen, damit sie
nicht durch den Stoff seiner Jeans spürte, dass er...
Schließlich war er SUPERHERBIE und dies war eine Hilfeaktion.
Irgendwie gelang es ihm, zu stammeln:
"Wenn ich so eine Frau hätte, also ich würde niemals... Ich
meine, ich könnte nie..."
Dass er könnte, und dass er würde blieb nicht mehr verborgen,
als sein rechter Arm der Schwerkraft schließlich nachgab.
Erstaunlicherweise schien sie seinen Zustand nicht übel zu nehmen.
Sie schlang sogar beide Arme und auch die Beine um ihn.
Vergessen SUPERHERBIE und die Hilfeaktion. Was blieb, war nur die Liebe zu
seiner Göttin und die Möglichkeit, sie zu beweisen.
"Versprich mir nur, dass du mich nie betrügen wirst..."
"Also Junger Mann, ich glaube, Sie hören mir gar nicht zu."
"Entschuldigung, ich war für einen Moment in Gedanken. Ich melde
mich dann bei Ihnen wegen der Entschädigungsvereinbarung."
Drei Wochen später lernte ich das Mädchen kennen, das meine Göttin
ablöste und das ich nach einigen Irrungen und Wirrungen dann auch geheiratet
habe.
Ich habe Frau Schroth nie wiedergesehen.