
Italienische Reise
In Venedig war ein heftiger Augustregen auf sie niedergeprasselt, in den engen
Gassen zwischen Markusplatz und Rialtobrücke hatte das nasse Pflaster
gedampft wie in ihrer Waschküche, wenn sie die weiße Wäsche
kochte. In Verona hatte der Reisebus den falschen Parkplatz angesteuert und
sie waren fast zwei Stunden zu Fuß unterwegs gewesen bis in das alte
Zentrum. Der an ein verlassenes Schwalbennest erinnernde Balkon der Julia
war wenig imponierend und keine ausreichende Belohnung für den Marsch
gewesen. Die schönste Reise in ihrem Leben. Italien 1955. Und die einzige.
Danach immer wieder die Lüneburger Heide und der Bayerische Wald. Friedrich
mochte nicht ins Ausland. Im Krieg war er zu oft im Ausland gewesen, in vielen
verschiedenen Auslanden. Nicht als Gast, als Feind. Im Frieden wollte er nicht
mehr weg von zu Hause. Er war zuviel herumgekommen.
Jan kannte Reisen von Kindes Beinen an. Andere Zeiten, Emmi,
sagte er. Ein Haus in Dänemark, Campingurlaub in Holland, Skifahren in
Österreich. Als er siebzehn war dann eine Rundreise durch Italien. Vom
Gardasee bis nach Sizilien. Mit achtzehn eine Woche London, das erste Mal
ohne Eltern, im Jahr darauf zwei Wochen Spanien, eine billige Busreise, aber
Hauptsache Spaß mit seinen Freunden, mit Abiturstress redlich verdient.
In diesem Jahr gab es allerdings keinen Urlaub, der Führerschein hatte
alle Ersparnisse aufgebraucht und der Zivildienstlohn bestand aus einem wesentlich
größeren Anteil Vaterlandsdank als barer Münze.
Die Sammeltassen mit dem Goldrand und dem grün-blauen
Pfauenfederdekor waren ihr ganzer Stolz. Nie konnte sie dabei zusehen, wenn
Jan das zarte Porzellan mit der groben Seite des Spülschwamms bearbeitete.
Er war ein so guter Junge. Emmi Bauckhage saß in ihrem Rollstuhl am
Fenster. Drüben, auf der anderen Straßenseite, lag der Friedhof
hinter den hohen, jetzt belaubten Bäumen. Im Winter konnte sie über
die Grabfelder blicken und bis zum spitzen modernen Turm der Kapelle. Seit
drei Jahren lag Friedrich jetzt dort, im Familiengrab der Bauckhages, die
immer in Lüdenscheid gelebt hatten.
"Ach, Jan", sagte sie seufzend, ohne sich ihm zuzuwenden, "wie
sehr ich dich beneide. Du hast alles noch vor dir, fast das ganze Leben. Mich
erwartet ja nichts mehr."
"Na, na, Emmi", sagte Jan, "gucken Sie doch mal woanders hin.
Nicht immer zurück und schon gar nicht immer auf den Friedhof. Nehmen
Sie sich ein Beispiel an meiner Uroma. Die hat sich zu ihrem zweiundachtzigsten
Geburtstag eine Reise auf einem Frachtdampfer geschenkt. Jetzt schippert sie
schon im dritten Monat über die Weltmeere. Und wenn der Käpt'n sie
nicht inzwischen hat kielholen lassen, weil sie ihm ständig in den Kurs
quatscht, müsste sie jetzt irgendwo zwischen Australien und Neuseeland
sein."
"Mir hätte ja Europa gereicht", sagte Emmi, "gar nichts
Aufregendes, einfach nur mal nach Italien oder nach Griechenland. In Italien
bin ich ja einmal gewesen, vor meiner Hochzeit, 1955, eine Busreise mit meiner
Freundin Amelie. Habe ich dir davon schon mal erzählt, Jan?"
"Schon oft, Emmi, Sie haben mir das schon ganz oft erzählt und die
Fotos haben Sie mir auch gezeigt. Aber das macht nichts, ich hör gern
davon. Das war ja damals noch aufregend, das Reisen, irgendwie etwas Besonderes."
"Ja, das war es wohl." Emmi seufzte gedankenverloren. "Ich
fühlte mich so ungeheuer weit weg von zu Hause. Ich hatte noch nie Olivenbäume
gesehen, ich wusste gar nicht, was Oliven waren. Und die Gondeln in Venedig,
das war alles wie ein Traum. Hab ich dir schon erzählt, dass Amelie und
ich mitten auf dem Markusplatz in Tränen ausgebrochen sind, weil das
alles so überwältigend schön war. Ich wäre so gern noch
einmal dahin gefahren, einmal nur, aber Friedrich wollte eben nicht. Und jetzt
bin ich zu alt und meine Hüften zu kaputt. Jetzt komm ich nicht mehr
nach Italien."
"In der Volkshochschule bieten sie am nächsten Wochenende ein Sprachenseminar
an", sagte Jan. "Italienisch für die Reise. Da lernt man dann
natürlich nicht komplett italienisch, aber so das Wichtigste für
die Höflichkeit und die Speisekarte, damit man nicht gleich auf deutsch
überall reinplatzen muss. Was meinen Sie, Emmi, wir könnten uns
doch anmelden. Bis zum Alten Rathaus, das schaffen wir beide doch locker mit
dem Rollstuhl. Und vielleicht kommt dabei ja gefühlsmäßig
so ein bisschen dolce vita rüber. Die arbeiten da nämlich suggestopädisch,
mit allen Sinnen lernen, steht im Programm. Und dann tun wir einfach so, als
wären wir nicht in Lüdenscheid in der Volkshochschule, sondern im
instituto parlare an der Piazza di populo in Milano." Jan unterstrich
die italienischen Worte mit den Gesten eines Dirigenten.
Emmi lachte. "Du meinst, wenn ich schon nicht nach Italien kann, dann
soll ich mir einfach einbilden, Italien käme zu mir? Wie der Berg, der
zum Propheten kommt?"
"Ach, Emmi, wenn man es recht überlegt, ist der Berg doch schon
da. Ich meine Italien. In der Mittagspause von unserem Seminar rollen wir
ganz gemütlich ins Gamberone. Das ist gleich um die Ecke in der Altstadt
und wir essen Spagetti frutti di mare und Pizza spinaci und trinken dazu Lambrusco.
Der beschleunigt unsere italienische Rede bestimmt ungemein. Wir werden die
anderen lernerfolgsmäßig völlig abhängen. Cara mia amore
und so."
Emmi steuerte ihren Rollstuhl vom Fenster weg zum Küchentisch und stützte
ihre Ellbogen unternehmungslustig auf. "Was meinst du, ob wir den Herrn
Bracci von gegenüber einladen, der ist aus Neapel. Friedrich und er sind
Kollegen gewesen. War ein Gastarbeiter der ersten Stunde und hat immer Heimweh
gehabt und dauernd erzählt von zu Hause. Er hat hier geheiratet und die
Kinder wollten nicht weg und er musste ja auch immer arbeiten und jetzt ist
er alt und gebrechlich und auf die Pflege seiner Schwiegertochter angewiesen.
Jetzt kann er nicht mehr nach Hause. Der freut sich bestimmt, wenn wir ihn
zu einem gemütlichen Abend einladen. Und dann kann er von seiner Heimat
erzählen. Bis tief in die Nacht. Das machen sie im Süden gern so.
Abends, wenn es kühler ist, auf der Piazza sitzen und noch ein bisschen
Wein trinken und reden."
"Genau, Emmi, ganz genau. Meine Rede, Italien ist gar nicht weit weg
von Lüdenscheid. Und so eine Reise muss natürlich auch vorbereitet
sein. Gleich morgen leihen wir uns erst einmal einen ganzen Stapel Reiseführer
und Bildbände in der Stadtbücherei aus. Wohin möchten Sie?
Mailand, Florenz? Rom natürlich. Capri? Das ist allerdings im Sommer
ziemlich voll." Jan stellte die Sammeltassen in die Glasvitrine des alten
Wohnzimmerschrankes. "Aber erst mal rollern wir schwungvoll die Wilhelmstraße
runter und essen im Venezia einen grandiosen Eisbecher."
Ein von kleinen Äderchen gezeichnetes Rot hatte die Wangen der alten
Dame überzogen. Ihre Hände tasteten über die Tischplatte, fanden
die Lesebrille mit den halben Gläsern und die Tageszeitung, die sie heranzog
und aufschlug.
"Und am Mittwoch besuchen wir einen Diavortrag im Kulturhaus. Goethes
Italienische Reise. Das stand heute in der Zeitung. Ich meine, es geht ja
beim Reisen nicht nur ums Essen, sondern vor allem um Kultur. Reisen soll
ja auch bilden."
Jan verzog das Gesicht.
"Goethe, na, der liegt mir jetzt nicht so, aber wenn Sie wollen, natürlich.
Also, nächste Station: Kulturhaus. Was halten Sie denn von Kino? Im Parktheater
gibt's "Italienisch für Anfänger", das ist zwar ein dänischer
Film, aber das Thema passt in unsere Reisepläne. Die Leute in dem Film
träumen alle von Italien."
Emmi strich sich über ihr dünnes weißes Haar, mit beiden Händen,
als erinnerten sie sich immer noch an die Fülle dicker dunkler Locken
in vergangenen Tagen.
"Hoffentlich ist es nicht zu heiß dort jetzt im August. Bitte Jan,
hol mir doch aus dem Schlafzimmer die Hutschachtel."
Sie war aus dunklem, feinen Holz, mit kitschigen bunten Rosen bemalt. Und
enthielt einen breitkrempigen Damenstrohhut mit sonnenorangeroten und zitronengelben
Seidenbändern. Jan setzte ihn ihr verkehrt herum auf und Emmi pustete
lachend gegen die Bänder vor ihrem Gesicht. Richtig herum aufgesetzt
flossen sie über ihren mageren Rücken wie ein langer Zopf.
"Amelie hat sich genau den gleichen gekauft", sagte sie, "in
Florenz ist das gewesen, bei einem dieser Straßenhändler. Der muss
natürlich wieder mit nach Italien. Oder meinst du, ich bin jetzt zu alt
für so einen Hut."
"Ach was", sagte Jan, "der steht Ihnen sogar gut. Ma bella."
Wobei er das Doppel-L genussvoll betonte. Emmi nahm den Hut ab, strich gedankenvoll
über die Bänder.
"Wenn wir wieder zu Hause sind, ruhen wir uns ein bisschen aus. Und dann
...Was hältst du denn von Griechenland? Da war ich noch nie."