
Lyrischer Gesang
Terpsichore nahm ratlos die geliebte Flöte zur Hand,
Prüfte Silben, Reime, Verse auf Sinn und auf Klang.
Da! Sie fand rhythmische Schwünge zum lyrischen Tand.
O es lauschten die Götter, sie lobten hellauf den Gesang.
Wie wohl war der Klang den empfänglichen Ohren.
Fortan wehte den Göttern gefälliges Frohlocken allhier.
So dichteten Hesiod die gottgleichen Horen
Und so klangen fortan Lieder der Barden auch hier.
Den empfindlichen Göttern im Haine, dem Hort,
O Freund, klingt deines Verses Reim vom Zenit,
Drum sinne auf's rhythmische Versmaß hinfort,
Dann lausche der Zeile, auch der Worte im Lied.
Ist entflammt Dir die Seele im lyrischen Schwang,
Ergießt klar sich geistige Kraft zum klingenden Lied?
Jauchze, Dich umarmt jetzt die Muse! Entzücke, ruf' Dank!
Heil Dir! O die Selige harmonische Kreise Dir zieht.
Vision zum goldenen Zeitalter
An der atlantischen Küste Kaliforniens bin ich im Bild des fern in den
Ozean versinkenden Abendrot gefangen, gefangen im Rauschen der gigantischen
Kulisse. Mir zu Füßen branden die Fluten donnernd gegen die Felsen.
Golden gleißt es im Zenit. O diese Einsamkeit, wie ich sie empfinde.
So unendlich, so unermesslich, so gewaltig. Aber plötzlich habe ich die
Gewissheit, nicht mehr allein zu sein. Aus der Höhe stürzen vor
mir nieder die Kaskaden aus Geflimmer und Gefunkel. Sie gischten und branden
im Inferno ewig rhythmisch in die Weite des glutenden Strandes.
Moleküle, Atome, Glast und Inferno zu meinen Füßen hoch
auf dem Felsen. Ich bin Teil des gigantischen Rhythmusses, des Atems hier
oben, des fließenden Lichts, bin eingebunden in das Anrollen des Ozeans,
in fortschreitender Dämmerung und fernem Rauschen. Und das endlose Meer
unter mir verzögert den Atem, es wird ihn verhauchen, und sich im tausendfachen
Schimmer und Glanz davonmachen: dann wird meine Einsamkeit umdüstert
sein. Ich warte, beobachte und lausche. Und das Wesenhafte, das immer intensiver
ich wahrnehme, hat mich eingekreist! Nun denn, ich bin zum Dialog bereit.
"Wer bist du?" Meine Frage ist stumm, ziellos, ist wie ein ferner
Gedanke im vergehenden Licht.
"Für dich bin gewiss ich ein rätselhaftes Wesen" kommt
die Antwort in meine Eingeschlossenheit.
"Ist nicht alles Rätselhafte auch irgendwo wesenhaft?" stellt
sich mir die Frage als Gedanke dagegen.
" Natürlich! Zu bedenken ist nur, dass sich Wesenhaftes auch sehr
deutlich vom Wesenhaften unterscheidet."
"Und welchen bedeutenden Unterschiedes kannst du dich rühmen?"
"Eines grundlegenden natürlich", bekam ich zur Antwort.
"So, so, eines grundlegenden also. Ich bin wissbegierig!"
"O, das ist schon ein wesentlicher Vorzug, den du dir sehr wohl zugute
rechnen kannst. Er zeichnet dich aus gegen andere", kam es anerkennend
zurück.
"Warum schweifst du ab? Erkläre mir erst die Wendung: Gegen wen
könne mir irgendwas zugute gehalten werden?"
"Gegen Wille und Verstand, Begier und Selbstsucht und gegen den Weg in
die Hölle.
War nicht die Wissbegier die erste sich fort-bildende Kraft in der Substanz
des Verstandes? Zwar ein Ansatz nur, der halbwegs - ich betone halbwegs und
zögerlich - zur Ausbildung der Einsicht geführt hat? Es machte schlummernde
Kräfte frei für den Einzug des Gemüts in die Seele. Dort konnten
Kräfte sesshaft werden und Kräften entgegenwirken, denen, die unsere
Existenz gefährden. Siehe, der Untergang war nicht fern und die Gradwanderung
hält an - schon Jahrtausende."
"Du meinst, das Gemüt ist von solch bedeutender Kraft?"
"Erst sie machte Platz für Sehnsucht, für Tanz und Gesang.
Prägte Neigung, Lust und Gespür, es zu empfinden, es in Regung zu
bringen, und festzuhalten im Bilde. Und es entwickelte sich die göttliche
Kraft der Phantasie für das Schöne. Und letztendlich beteiligte
sich's am Schaffen des goldenen Zeitalters."
"Wie schön du das sagst, aber ist nicht das andere, das goldene
Zeitalter der Menschheit insgesamt ein Traum geblieben?
"Aber dennoch ein Schritt nach vorn. Schon allein die schwärmerische
Idee lässt uns erkennen, wonach wir uns sehnen. Es ist denkbar, dass
es das goldene Zeitalter nicht gegeben hat, aber auch denkbar, dass es auf
sich warten lässt. Es stimmt ja, Friedlosigkeit und Herrschsucht konnten
immer noch nicht bezwungen werden. Untaten erhielten in Überlieferungen
den deutlichen Vorzug."
Ich schwieg. Der Glanz war inzwischen in die Weite des Meeres entflohen. Am
Fuße des Felsens phosphorizierten jetzt sanfter auflaufende Wellen.
Schließlich gab ich weiter zu bedenken:
"Nun erkläre mir aber den grundlegenden Unterschied deines Wesens
zu einem gegenwärtig existenten.
"Geduld mein Freund, Geduld, dir fällt es leichter, mich zu verstehen,
wenn ich dich an die Größe der griechischen Kunst heranführe,
die ja den ersten nennenswerten Ansatz zum goldenen Zeitalter schuf."
"Eine schöne Illusion", warf ich ein.
"Oho, die olympische Höhe eine Illusion? Ein Geschenk der Götter
eine Illusion? Sie veredelten das Bewusstsein. Sie gaben den Anstoß
zu vorzüglichen Übungen, die ja Erziehung und Anstand, ja Würde
und Anmut zum Gehalt des Geistes machten. Sie weckten seelische Kräfte,
sie beflügelten harmonische Anlagen, weckten Freude und Bewunderung am
Körper. Wie wunderbar die Nacktheit, die jugendliche Frische und die
unbefangene Freiheit, die Selbstzucht. Fast schon genug für den Beginn
eines goldenen Zeitalters. Ich denke, du erkennst den Unterschied verschiedener
Wesen?"
"Trotzdem, eine schöne Illusion", erwiderte ich, " Polymedes,
einer der ersten unter vielen, wie auch Phidias, der Gigant und Genius, dessen
Werke bis auf den heutigen Tag nicht übertroffen sind, - sind sie nicht
gescheitert?"
"Gescheitert? Ja, jedoch nicht in der künstlerischen Größe,
als vielmehr an der Gier und Brutalität und der Zügellosigkeit des
Banausentums. Denk Dir: Nachfolgende Generationen wenden sich ab von den Heiligtümern
der Ahnen und verkommen seelisch zu Monstern. Sie sind dann nicht in der Lage,
den Werten der Kunst die rechte Bedeutung zu geben."
Es reihen sich Fragen ohne Ende. Schon kündigte sich über dem Kontinent
die Morgendämmerung an.. Der Ozean graute, rauschte heftiger, ein wenig
übernächtigt und fröstelnd machte ich mich zurück ins
Hotel. Auf meine entscheidende Frage, ob das goldene Zeitalter noch lange
auf sich warten lasse, erhielt ich zur Antwort: Unentwegt mutiere es im aufrecht
gehenden Wesen, der Verstand aktiviere mehr und mehr an Substanz, zwar gering
nur, aber in nicht ferner Zukunft werde die Einsicht davon profitieren und
Unfriede und Herrschsucht nicht mehr möglich sein. Das könnte dann
der Anfang eines goldenen Zeitalters sein.
Ernst Schmidt