Die Zeitungsanzeige

Das war´s dann also! Heute hat mir der Arzt gesagt, dass seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen wurden. Sechs Monate habe ich noch, länger auf keinen Fall, vermutlich sogar kürzer. Hoffentlich wird es kürzer. Denn wenn ich schon gehen muss, dann doch bitte sofort und nicht noch hinausgezögert. Wenn ich mir vorstelle, an so eine Maschine angeschlossen zu werden - fürchterlich. Warum ein solches Leben, das doch gar nicht mehr lebenswert ist, künstlich, ja fast mit Brachialgewalt, noch in die Länge ziehen? Gut, die Ärzte dürfen die Maschinen nicht abschalten, die sollen Leben erhalten. Vielleicht sollte ich also nachhelfen und denen die Entscheidung abnehmen?

Ich könnte Tabletten schlucken. Dann muss ich aber sicher gehen, dass mich niemand findet. Denn sonst pumpen die mir den Magen aus und das war´s dann. Oder doch eine andere Möglichkeit? Vom Dach springen? Sicher eine effektive Methode, aber ich glaube, dazu habe ich nicht den Mut. Wenn ich da runter sehe, trete ich bestimmt gleich wieder von der Kante zurück. Ich kenne mich doch. Und woher soll unsereins eine Waffe bekommen? In Filmen geht das immer so leicht. Oder die Pulsadern aufschneiden? Nein, das bringe ich nicht über mich. Mir selbst weh zu tun! Gibt´s noch ´ne andere Möglichkeit? Oder doch Tabletten? Mein Gott, war das schwierig! Da sagt es sich immer so einfach, dann nehme ich mir das Leben. Doch in der Praxis ... Will ich mir denn eigentlich wirklich das Leben nehmen? Ja sicher will ich ... Nein, wenn ich es mir recht überlege, will ich das gar nicht. Sonst würde ich wohl kaum irgendwelche Ausreden finden, die gegen die eine oder andere Tötungsart sprechen. Das wäre mir doch völlig egal. Dass ich so rational, ja fast distanziert darüber mit mir selber diskutiere, zeigt mir, dass ich das gar nicht ernst meine. Das ist so, als ob ich über jemanden anders rede.

Trotz der Aussage des Arztes habe ich wohl doch noch Hoffnung. Was schafft die Wissenschaft schließlich nicht alles. Vielleicht entdeckt man ja noch eine Möglichkeit, irgendein Mittel, das hilft. Dann also bitte doch länger und nicht kürzer. Je länger ich es aushalte, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung. Aber andererseits, wenn dann die großen Schmerzen kommen, von denen man immer liest... Oder die Therapien mit all der Übelkeit und so weiter. Ob ich das durchhalte? Hat diese ganze Quälerei, das Dahinsiechen wirklich einen Sinn? Ist dann der schnelle Schlussstrich nicht doch die bessere Lösung für alle? Ein Ende mit Schrecken, statt Schrecken ohne Ende sozusagen. Was heißt hier eigentlich für alle? Für mich, da bin ich jetzt ganz egoistisch. Was interessieren mich die anderen, schließlich habe ich die Krankheit und nicht die. Aber andererseits... Da habe ich doch kürzlich erst gelesen, dass jemand nach soundsoviel Jahren aus dem Koma wieder erwacht ist. Und in einem ähnlichen Fall hatten die Eltern schließlich die Leben erhaltenden Maschinen abgestellt. Vielleicht wäre ja auch ihr Kind irgendwann wieder aufgewacht. Doch ihre Entscheidung konnten sie nicht mehr rückgängig machen. Genauso wäre es, wenn ich mir das Leben nähme. Dann wäre ich tot, ein für alle Mal. Und wenn morgen am Tag das Mittel gegen meine Krankheit entdeckt wird, dann habe ich Pech gehabt. Nein! Nein, definitiv kein Selbstmord! Schließlich haben auch andere Leute diese Krankheit überwunden. Nur daran darf ich denken, vielleicht gelingt es ja auch mir. Das klingt jetzt abgedroschen, aber so lange es noch ein "vielleicht" gibt...


Ich müsste irgendetwas Sinnvolles tun, um mich abzulenken. Vielleicht ein Dankeschön an alle Menschen, die mir geholfen haben, das Leben schön zu finden. Gott, wie ungewöhnlich. Wer macht denn schon so etwas, gibt sich soviel Mühe? Obwohl alleine das ja schon ein Grund für mich ist, es zu tun. Ich fürchte, ich muss mir eine Liste machen, denn da sind so viele Leute, denen ich "Danke" sagen müsste. Ob ich überhaupt die Zeit habe, sie alle aufzusuchen? Außerdem, wenn ich jetzt überall hingehe und sage: "Danke und Tschüss" werden die doch stutzig und fragen nach. Dann muss ich natürlich den Arzt zitieren und es kommt Mitleid. Ist nur natürlich - zumindest bei den meisten Menschen. War bei mir und Frau Meier von gegenüber genauso. Das Problem ist nur, dass ich im Moment eines nun absolut nicht ertragen kann: Mitleid.

Nein, da muss ich mir was anderes einfallen lassen. Ob man ...? Warum eigentlich nicht. Man liest doch immer wieder in Büchern, dass Verstorbene Gott weiß was für Wünsche und Bestimmungen äußern, wie die Beerdigung usw. ablaufen soll. Ich finde das ja schlicht blödsinnig. Überhaupt dieser ganze Aufwand und Pomp, der da getrieben wird. Noch ein Kranz und noch mehr Blumen. Der eine muss größer und schöner sein als der andere. Guck mal, die haben aber nur so einen Strauch. Und nach ein paar Tagen ist sowieso alles hin. Das wird doch nicht wegen des oder der Verblichenen gemacht, sondern für die Hinterbliebenen. Wie scheinheilig. Nein, ich ziehe kurz und schlicht vor, das reicht völlig aus. Das einzige, was ich in diesem Zusammenhang hinterlassen könnte, wäre eine Anzeige, in der ich mich schriftlich bei allen bedanke, die mir geholfen haben, das Leben schön zu finden. Genau so mache ich es. Still und heimlich gehe ich auf eine lange Reise - ohne Mitleid und wohl gemeintes Bedauern. Und gleichzeitig kann ich Danke sagen. Danke für ein nicht immer einfaches Leben - welches Leben ist das schon. Aber dennoch war es eigentlich schön. Was ich da gerade geschrieben habe, klingt wie aus einem Kitschroman. Aber so denke ich nun mal im Moment. Ich weiß, es gehört zum so genannten guten Ton, ständig zu stöhnen und über Probleme zu jammern. Ich mache das jetzt nicht. Ich rufe bei der Zeitung an und gebe eine Anzeige auf.

Jürgen Wilmsen (1997)

 

zurück zu Willi