Tage des Sirius
oder
Diogenes kam nie nach Juist


Bernstein liegt reglos im Schatten einer über zwei Kisten geworfenen alten Plane und döst scheinbar vor sich hin. Ich weiß aber, dass ihm nichts entgeht, was sich auf dem weiten Strand vor mir tut. Kommt ein neugieriger Strandwanderer meiner Behausung zu nahe, genügt es meist, wenn er sich ein wenig aufrichtet. Nicht ein einziges Mal hat jemand in den vergangenen Tagen meine Ruhe gestört.

Auch ich bewege mich kaum in meinem aus Planken, Balken, Kisten, Segeltuchresten und einem großen Holzfass zusammengestückelten Unterschlupf in den Vordünen zwischen der Wilhelmshöhe und dem Aufgang zum Flugplatz. Es ist heiß, sehr heiß in diesen Julitagen. Ungeübten Barfußläufern brennt der Sand unter den Sohlen. Die Insel liegt ermattet in der Mittagssonne. Hundstage.

Ist es wirklich schon eine Woche her, dass mich der Hund gefunden hat? Bernstein, so habe ich den sonderbaren Mischling wegen seiner auffälligen Augenfarbe genannt. Und er hat mich gefunden, nicht ich ihn, davon bin ich inzwischen fest überzeugt. Als ich mit meinem alten Bundeswehrrucksack über der Schulter an den Strand kam, hat er plötzlich vor mir gestanden, mich unverwandt angesehen. Und ich bin ihm gefolgt, seltsamerweise von Anfang an ohne Angst, obwohl er mir gewaltigen Respekt einflößte. Bis hierher in den Unterschlupf, den wer weiß wer vor nicht allzu langer Zeit mehr schlecht als recht errichtet hat.

Seitdem ist er bei mir, aufmerksam und unaufgeregt. Manchmal verschwindet er für kurze Zeit, meist aber liegt er, so wie jetzt, vor meinem Bau. Manchmal begleitet er mich bei meinen nächtlichen Strandwanderungen, manchmal bleibt er als Wache bei meinen Habseligkeiten zurück. Aber, was immer er tut, er entscheidet selber. Eher bin ich es, der seinem Willen folgt, etwa wenn er mich davon abhält, bei ablaufendem Wasser im Bereich gefährlicher Unterströmungen zu schwimmen oder zu weit auf einer trügerischen Sandbank hinauszuwandern.

Am Tage aber liege ich hier in Badeshorts und T-Shirt auf meinem alten Schlafsack, lasse die Zeit verrinnen, denke nach über Gott und die Welt, lese - aber nur ganz sporadisch - die eine oder andere Geschichte von seltsamen Begebenheiten im Töwerland und - lasse meinen Bart wachsen.

Nachts, wenn nur noch ganz selten jemand hier draußen unterwegs ist, stromere ich stundenlang am Flutsaum entlang, immer weiter nach Osten, bis Norderney fast zum Greifen nah vor mir liegt. Ich liebe den fauligen Geruch der gammeligen Flutrückstände; zurzeit liegen dort Tausende kleiner Seesterne herum. Ich genieße es, im Wasser der leer laufenden Priele zu spüren, wie der Sand unter meinen Füßen in Bewegung ist. Ich lausche der Melodie der nächtlichen Brandung, die von Wellenschlag zu Wellenschlag ihr ewiges Thema variiert.

Zurück an meinem Unterschlupf träume ich mich mit den Positionslichtern der Schiffe weit draußen auf der Kimm in die fernen Länder, denen die Sehnsucht meiner Jugend galt, verliere mich für Stunden in den unendlichen Weiten eines Firmaments, das in dieser Klarheit über unseren Städten längst nicht mehr zu sehen ist. Und immer wieder gilt mein Blick dem Stern, der diesen Tagen seinen Namen gibt und zurzeit der strahlendste am nächtlichen Himmel ist: dem Sirius.

Tage und Nächte am Meer. Ich bin glücklich, faul und bedürfnislos. Alles ist ganz so, wie ich es mir vor dieser Reise gewünscht hatte: kein Hotel Friesenhof mit seinen komfortablen Zimmern und dem freundlichen Personal. Nur dieser Verschlag. Kein von Spitzenköchen kreiertes Essen im Achterdiek, nur Brot, ein paar Konservendosen mit Wurst und Fisch, reichlich Äpfel, viel Wasser und ein wenig Wein. Mehr habe ich nicht mitgebracht. Genug für ein paar köstliche Tage der Einsamkeit. Morgen jedoch werde ich ins Dorf hinüber müssen, meine Vorräte gehen zur Neige.

Ob es an dem Fass liegt, welches den Kopfteil meiner Behausung bildet, dass ich immer wieder mal an den Mann denken muss, der vor gut zweieinhalbtausend Jahren die alten Griechen durch seine Lebensweise, mehr aber noch durch seine unverblümten Weisheiten irritiert hatte? Diogenes der Kyniker, erster bekannter Aussteiger in der Geschichte der Menschheit, konsequent in seiner Bedürfnislosigkeit, erbarmungslos in seinem Spott, ohne Respekt vor den Mächtigen seiner Zeit. Was für ein Leben? Aber für mich, auf Dauer?

Bernstein knurrt aggressiv. Ich richte mich auf und sehe den Inselpolizisten auf uns zukommen. Ich glaube meine Zeit hier ist ...


"Hallo Herr Markward, hallo aufwachen. Wir schließen jetzt." Vor Friedrich Markward, der es sich nach seiner Pensionierung angewöhnt hat, ganze Nachmittage in der Stadtbücherei zu verbringen, steht die Bibliothekarin und lächelt freundlich. Als er sich leicht verwirrt erhebt, fällt ein schmales Büchlein zu Boden: "Das Leben des Diogenes von Sinope". Draußen legt sich dichter Novembernebel über die Dächer der Altstadt.

Eine Skizze
von
Werner H. Schönherr (Januar2003)

 

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