Lockerer Vogel


Bevor Walfried sein Zimmer verließ zog er sich seinen dunkelgrauen Wollmantel an.
Mit einer großen Pappschachtel, auf der in buntem Druck ein Modellflugzeug abgebildet war, durchquerte er den Korridor und stieß die Tür zum Wohnzimmer auf.
Therese, seine Mutter, saß wie üblich mit dem Rücken zur Tür in ihrem grün gemusterten Ohrensessel und schaute eine ihrer Lieblingssendungen.
"Volkstümliche Hitparade"
Walfried drückte ihr von hinten einen Kuss auf den schütteren grauen Scheitel.
"Ich geh dann jetzt!"
"Wohin denn schon wieder?" Thereses Aufmerksamkeit galt eindeutig dem Fernsehprogramm.
"Zu meinem Phoenixclub."
"Warst du da nicht vor zwei Tagen?" Therese drehte sich kurz zu ihm um.
Walfried nuschelte eine vage Antwort und wandte sich zum Gehen.
"Komm nicht zu spät", erreichte es ihn im Flur, kurz vor der Haustür.
"Und nimm dich vor den lockeren Vögeln in Acht."
Den Satz hörte er nur zu einem Drittel. Allerdings reichte das. Er kannte ihn seit zwanzig Jahren. Genauer gesagt, seit er vierzehn war.
Walfried schritt schnell der S-Bahn-Haltestelle entgegen.
Hier entsorgte er den Mantel und die Pappschachtel, nachdem er ihr ein kleineres Kästchen entnommen hatte, in einem Papierkorb.
Er brauchte nicht lange auf die nächste Bahn zu warten.
Walfried setzte sich in einen nur spärlich besetzten Waggon ans Fenster und lehnte seinen Kopf daran. Er schloss kurz die Augen.

Endlich. Endlich würde er sie treffen und kennen lernen. Wie sehr hatte er diesem Tag entgegen gefiebert. Immer hatte er damit gerechnet, dass Konstanze im letzten Augenblick einen Rückzieher machen würde.

Walfried war so sehr in seine sehnsuchtsvollen Gedanken versunken, dass er seine Nachbarin, Frau Pfleghar, die ein paar Reihen vor ihm saß, gar nicht registrierte. Diese wunderte sich, den guten Walfried, der ihr immer etwas weltfremd vorgekommen war, heute so adrett im Anzug gekleidet anzutreffen. Eigentlich war er bekannt dafür, dass er tagaus, tagein, seine Grobkordhosen mit unvermeidlichem Karohemd trug. Dazu derbes Schuhwerk. Sie hatte ihm schon ein paar Mal zaghaft zugewunken, aber Walfried hatte nicht reagiert.

Walfrieds Blick, der aus dem S-Bahn-Fenster gerichtet war, erfasste nichts. Seine Augen fuhren blicklos über Häuserzeilen, Menschen und Autos. Die Vorfreude auf die bevorstehenden Ereignisse hatten ihn in eine andere Hemisphäre katapultiert.
Ihre Briefe hatten sehr verheißungsvoll geklungen. Er hatte es sehr anregend empfunden, dass sie nicht gleich mit der Tür ins Haus gefallen war, sondern sich von Mal zu Mal gesteigert hatte. Sie hatte Phantasie, war kreativ. Ein klein wenig Stil konnte ja nicht schaden.

Konstanze zog den etwas zu kurzen Rock zurecht und sog merklich angespannt an ihrer Zigarette. Sie saß an der Theke der Bar ihres Hotels, in dem sie vor einer halben Stunde ein Zimmer reserviert hatte. Ansgar hatte sie darum gebeten, weil er nicht wusste, ob er es frühzeitig von seiner Besprechung schaffen konnte.
Konstanze war aufgeregt. So etwas machte sie zum ersten Mal.

Aus ihren Briefen war hervorgegangen, dass sie haargenau der Typ war, den er suchte. Konstanze war nahezu perfekt. Sie würden wunderbar harmonieren, das wusste er, ohne es probiert zu haben. Diese Wahnsinnsmischung aus Scheu und Freigiebigkeit. Seine Hand, die heute trocken und kühl und nicht wie gewohnt heiß und feucht war, fühlte die Schatulle in seiner Anzugsjacke, er strich andächtig darüber.

Wie mochte er aussehen? Nach seinen Briefen zu urteilen, war er eher der unauffällige Typ mit den angeblich inneren Werten. Er hätte sich auch als Adonis ausgeben können. Aber wahrscheinlich kannte er die Frauen doch zu gut, um zu wissen, dass das den meisten ziemlich egal war. Ganz im Gegenteil, ein paar Makel eigneten sich doch wunderbar dazu, den Mutterkomplex aus seinem Versteck zu locken.

Konstanze, der Name klang wie Musik in seinen Ohren. Ob sie tatsächlich seine Kleiderordnung befolgt hatte? Oh doch, er glaubte schon. Ihre leicht devote Haltung hatte erkennen lassen, dass sie zur Unterwerfung bereit war.
Walfried hatte sein Ziel erreicht. Leichtfüßig sprang er aus der S- Bahn.

Konstanze zerkaute ihre innere Unterlippe und schaute immer öfters zur Tür. Sie hatte ihr drittes Mineralwasser hinuntergekippt, obwohl ihr der schmierige Kellner ständig etwas Härteres anbieten wollte. Nein, heute wollte und musste sie einen klaren Kopf behalten. Ihre gesamte Zukunft hing davon ab.

Walfried schritt, ganz Herr von Welt, auf Konstanze zu. Tatsächlich, da saß sie, die nahezu perfekte Erscheinung. So blond wie nötig, so schlank wie möglich, so vulgär wie notwendig.
Konstanze strahlte ihm entgegen.
Er ergriff ihre Hände und führte sie an seine Lippen. Ein Hauch von Bedauern durchfuhr ihn, als er die abgebissenen Fingernägel registriert hatte.
Abzug in der B-Note. Aber egal, dachte er flüchtig.
"Ansgar! Endlich!" stammelte Konstanze.
Nach kurzem Austausch von Allgemeinplätzen schlug Ansgar alias Walfried vor, sich in der intimen Zweisamkeit ihres Zimmers näher kennen zu lernen. Walfried, der sich nicht als Herr der Fliegen, aber als Herr der lockeren Vögel verstand, hatte sich mit Ansgar einen Künstlernamen zugelegt.
Es war ein recht nettes Zimmer mit bodenlangen üppigen Vorhängen vor den Fenstern.
Walfried verschlang Konstanze mit seinen Augen.
Ein perfekter Fang, dachte er. Er musste zur Sache kommen, solange er in Stimmung war.
Walfried zog die Kollierschatulle aus seiner Tasche und präsentierte sie Konstanze.
"Ich habe dir etwas mitgebracht!"
Er stellte sich hinter Konstanze und öffnete die Schachtel.
Er legte ihr das vermeintliche Kollier um den Hals.
Dann zog er zu. Was war das? Das fühlte sich nicht richtig an.
Bevor sich Walfried alias Ansgar noch den Grund des Handikaps erklären konnte, wurde er schon von hinten von vier heftigen Armen gepackt und in die Bewegungslosigkeit versetzt.
"Sie sind verhaftet!" erklärte ihm ein sonorer Bariton.
"Gut gemacht, Konstanze! Ich werde mich beim Polizeipräsidenten für ihre Beförderung einsetzen."
Konstanze hatte den Überraschungsangriff ihrer beiden Kollegen, die hinter den Vorhängen gelauert hatten, nur halb verfolgen können. Sie hatte im richtigen Moment ihr Handy zwischen Schlinge und Hals geschoben, (da schimpfe noch einmal einer über die moderne Technik). Nun stand sie mit zitternden Knien, aber äußerst zufrieden vor ihren Kollegen und entfernte die unzerreißbare Kunststoffschlinge, die man sonst zum Kabel binden benutzte.

Zwei Tage später hatten sie Wohnung und Zimmer von Walfried unter die Lupe genommen. In seinem Zimmer befanden sich unzählige Flugzeugmodelle. Drei hingen, mit Kabelbindern befestigt, an der Decke. Genau so hatten die drei Frauenleichen an den Decken verschiedener Hotels gehangen.
Die Modelle trugen mit blutroten Lettern Namen auf dem Rumpf.
"Lockerer Vogel 1 , Lockerer Vogel 2, Lockerer Vogel 3"
Ein viertes Modell stand bereits auf einem Arbeitstisch in Walfrieds Zimmer.
Die ersten Buchstaben des Namens waren schon angebracht.
"Lock......"
"Wie bezeichnend", meinte der Polizeipräsident später.
"Als hätte er schon im Voraus geahnt, dass dieses Mal sein lockerer Vogel ein Lockvogel sein würde. Im wahrsten Sinne des Wortes."

Martina Schnerr-Bille


 

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