Die Eiskönigin

An einem schönen Sommerabend ging Franz von der Arbeit nach Hause. Es war nicht mehr weit bis zu seinem Heim, als er sehr müde wurde und dachte: "Ich ruh' mich etwas aus. Dann geht es gleich besser." Nach einer Weile erwachte er und fror sehr.
"Wo sind die Blumen und Bäume, die Vögel und alle anderen Tiere?"
Um ihn herum war nur Eis und Stille. Während er überlegte, was er tun sollte, rief eine Stimme: "Komm einmal her zu mir!"
Er folgte der Stimme. Aber je näher er kam, desto mehr fror es ihn. Deshalb blieb er stehen. Nicht weit von ihm saß eine Frau in einem strahlend blauen Kleid auf einem goldenen Thron. Ihren Kopf zierte eine weiß und blau funkelnde Krone.
"Wer bist du?" fragte Franz.
"Ich bin die Eiskönigin", antwortete sie. "Komm, ich zeige dir mein Reich und meine Untertanen. Bestimmt gefällt es dir. Ich möchte, dass du bei mir bleibst. Du sollst es gut haben."
Sie gingen durch viele Säle bis sie in einen schönen Park mit vielen Blumen kamen. Sie leuchteten in vielen Farben, nur die blauen Blumen fehlten. Franz fiel das nicht auf. Noch nicht! Aber dass die Mädchen in den Sälen und im Park dieselbe Eiseskälte ausstrahlten wie ihre Königin, das bemerkte er schon. Ihn schauderte. Er wollte heim zu seiner Liese und den Kindern. Die Eiskönigin dagegen dachte: "Es wäre so schön, wenn ich wieder einen Mann hier behalten könnte."
Aber so sehr sich die Eiskönigin auch bemühte, ihn zu überreden, Franz wollte nicht bleiben. Gewiss, er lebte in ärmlichen Verhältnissen, aber mit seiner Liese und den Kindern. Er wollte zurück in die Wärme, aber die Eiskönigin ließ ihn nicht gehen.
Eines Tages ging er wieder in den Park. Da hörte er bei den Blumen ein Wispern. Ein Stimmchen flüsterte: "Geh nach Haus, sonst vergisst du deine Angehörigen, wie wir." Und ihm wurde eiskalt.
Die Eiskönigin hatte die Worte gehört und das Blümchen wurde in eine übel riechende Pflanze verwandelt. Wieder und wieder bemühte sie sich um Franz. Doch vergebens!
Jeden Abend dachte er an seine Liese und sie an ihn. Aber er merkte, dass er bald mit seiner Kraft am Ende war. Immer stärker bannte ihn der Zauber der Eisprinzessin.
Es war ein kalter Morgen, und er saß traurig im Park. Da fiel ihm etwas vor seine Füße. Beim Aufsehen sah er einen Vogel blitzschnell verschwinden. Er hob das blaue Vergissmeinnicht auf und steckte es weg. Er dachte nun wieder mehr an seine Lieben. Am folgenden Tag brachte der kleine Bote wieder eine blaue Blume. Und da wusste Franz auf einmal, warum es die Farbe im Park nicht gab. Blau war die Farbe der Treue.
Die Eiskönigin hatte dies alles gesehen und war auf der Hut. Als der Vogel zum dritten Mal mit einer blauen Blume kam, gebot sie herrisch: "Gib sie mir!"
"Nein, nein!"
"Ist das der Dank, dass du es so gut bei mir hast? Na warte, ich bekomme sie schon."
"Die eine kannst du haben", antwortete der Vogel, "aber sieh dich doch einmal um."
Die Vergissmeinnicht hatten sich wundersam vermehrt. Zuerst riss die Eiskönigin sie noch wütend aus der Erde, aber je mehr sie entfernte, desto mehr wuchsen nach. Als sich schließlich die ganze Wiese in ein blaues Blütenmeer verwandelt hatte, wusste sie, dass sie Franz verloren hatte, und er zu Liese und seinen Kindern zurückkehren würde.
Und wir wissen jedes Frühjahr, wenn die blauen Vergissmeinnicht blühen, dass der Sommer nahe ist.

 

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