Glück durch Glas

Das also war die ultimativ letzte Begegnung mit ihrer großen Liebe. Der dunkle Sarg glänzte trotz des trüben Wetters wie frisch poliert. Schwarzer Lack wie sein Audi-Coupé. Mit einem Single Liegesitz diesmal. Sven hätte das gefallen. Den großen Strauß roter Rosen, den Sinja da deponiert hatte, wo sie sein Gesicht vermutete, hätte er sicherlich als unnützen Mumpitz abgetan. Ein paar Flaschen Bier oder ein paar kleine Flaschen klarer Schnaps wären ihm lieber gewesen. Allzu lange hätte dies allerdings nicht gereicht, und wie hätte sie hier für Nachschub sorgen sollen? Ein Glucksen stieg aus ihrer Kehle hoch. Sie presste das Seidentüchlein mit dem schwarzen Trauerrand an den Mund, durch das ein unterdrückter Laut nach draußen drang. Schon spürte sie Ralfs schützenden Arm auf ihrer Schulter. Sie würde es durchstehen, das war sicher, auch wenn es für diese Premiere nie eine Generalprobe gegeben hatte. Dann hätte sie bequeme, flache Schuhe gewählt. Stattdessen balancierte sie in schwarzen Pumps auf dem Matsch der durchweichten Erde. Nun, es konnte nicht schaden, sich ein wenig an Ralf anzulehnen. Schwäche zeigen in dieser schmerzlichen Situation war angemessen, vielleicht sogar erforderlich. Sie spürte den weichen Wollstoff seines Wintermantels, fühlte seine trainierten Muskeln, atmete sein Parfum. Ein Zittern durchlief sie, angenehm und ein wenig erregend. Über den dunklen Rand der Sonnenbrille konzentrierte sie sich auf die Zeremonie. Langsam und bedächtig ließen die Träger den Sarg in das grün ausgeschlagene Loch. Aus den dunklen Wolken fielen dicke Regentropfen. Eine perfekte Kulisse für einen perfekten Abgang. Der Pfarrer griff zur Schaufel und ließ schwarze Erde polternd auf den Sarg fallen. Sinja warf einen dicken Strauß Vergissmeinnicht hinterher. Ihre Tränen flossen nun hemmungslos, ihre Trauer war aufrichtig und tief. Immer noch schmerzte der Verlust der großen Liebe, wenn auch Sven, ihr wundervoller, zärtlicher Sven vor Monaten gestorben war. Glück wie Glas für sie. Glück im Glas für Sven. Sinja drückte ihr Gesicht in Ralfs Mantelkragen und spürte, wie seine Hände tröstend ihre Schultern umfassten. Komisch, dass sie nun an Tante Lilis Vase denken musste. Auch die filigrane Glasvase mit dem ausladenden weiten Rand gab es nun nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr so, dass sie einen Blumenstrauß in ihrer gläsernen Umarmung hätte halten können. Tränen stürzten aus Sinjas Augen, helle, durchsichtige Glasperlen, die sich mit den größeren Regenperlen auf Ralfs Mantel mischten. Glück wie Glas. Beileidsbekundungen, der ohnehin kleinen Trauergemeinde, wehrte Ralf mit einem heftigen Kopfschütteln und einem besorgten Blick auf ihre bebenden Schultern ab. Vom späteren Kaffeetrinken zog sie sich, mit dem ausdrücklichen Wunsch allein zu sein, bald zurück.

In ihrer Wohnung, schleuderte sie die schwarzen Pumps von den Füßen, befreite sich von der regendurchweichten Trauerkleidung und kuschelte sich in ihren weißen Frotteebademantel. Dann wanderte sie durch ihre Wohnung, als besichtige sie diese zum ersten Mal und blickte sich um. Dies war nun ihr Reich. Niemand konnte es ihr verdenken, wenn ihr nach Veränderung, nach neuer Gestaltung zu Mute war. Ein wenig mehr Farbe, weniger männliche Nüchternheit und mehr weibliche Verspieltheit für den Beginn. Svens Sachen würde sie auf den Dachboden räumen. Es war nur verständlich, dass sie den Anblick nicht ertragen wollte. Später würde sie einige Neuanschaffungen vornehmen oder die Wohnung gar verkaufen. Sie hatte es nicht eilig. Sven hatte zwar nur eine kleine Firma, aber eine umso größere Lebensversicherung hinterlassen, so dass ihr erst einmal genügend Zeit und Raum für eine Auszeit und einen guten Neubeginn blieben. Schließlich gab es da auch noch Ralf, seinen Freund, der sich in dieser Situation auch als ihr Freund erwiesen hatte und letzt endlich, ohne es zu wollen, dazu beigetragen hatte, dass alles so perfekt abgelaufen war. Sie kicherte. Ihre Gedanken gingen zurück zu seiner Umarmung, an das angenehme Prickeln auf ihrer Haut. Sie würde den Dingen ihren Lauf lassen. Niemand würde ihr verübeln, wenn sie sich, nach einer angemessenen Zeit natürlich, mit dem Freund ihres verstorbenen Gatten tröstete.
In der Küche öffnete sie den Kühlschrank und nahm eine Flasche Bier heraus. Sie öffnete sie mit Svens Feuerzeug, das immer noch auf der Ablage auf ihn wartete. "Prost", flüsterte sie "und wo immer du bist: Gut Schluck!" Wieder kicherte sie. Gäbe es einen Himmel für Sven, so würde dort reichlich Bier und Hochprozentiges fließen. Ja, mit Bier hatte alles angefangen. Glück wie Glas. Für Sven gab es nur dieses blonde Glück im Glas. Umgeben von vielen Flaschen verbrachte er schon bald nach der Hochzeitsfeier die Abende vor dem Fernseher. Fußball, was sonst, dröhnte durch die Wohnung, wann immer Sinja vom Büro nach Hause kam. Inmitten von Chips- und Erdnusstüten thronte Sven auf dem Sofa und kommentierte lautstark die sinnlose Klopperei von 22 Männern um einen Ball. Nach dem Spiel ging er noch oft in eine Kneipe, um die Heldentaten seines Vereis zu diskutieren. Sinja verbrachte die Abende allein, bei einem Glas Tee und einem Buch. Die Glasvase, wie ein Mahnmal, auf dem Esstisch vor Augen. Glück wie Glas. Glück im Glas. Glück durch Glas. Wie ein Imperativ, wie eine mathematische Formel lag dieser Satz irgendwann im Raum, ließ sich nicht wegdenken, ließ sich nicht wegdiskutieren. Es war an ihrem zweiten Hochzeitstag, den Sven als solchen gar nicht registrierte, als sie auch danach handelte. Mit einer heftigen Bewegung fegte sie die Glasvase vom Tisch. Da lag ihr Glück, in tausend kleinen Scherben. Glück wie Glas. Die Zeit war reif zu handeln. Auf dem Dachboden hatte sie eine handgetriebene Kaffeemühle, die sie einst auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Sie gab einige kleine Scherben in das Mahlwerk und mahlte sie in mühevoller Arbeit zu feinem Glasstaub, bis sie genug davon hatte, ein altes Marmeladenglas zu füllen. In den nächsten Tagen präsentierte sie Sven ein Müsli zum Frühstück. "Für deine Gesundheit", kommentierte sie die Neueinführung. Und Sven, der mehr an den Sportnachrichten als an seiner Gesundheit interessiert war, aß brav jeden Morgen, was sie ihm vorsetzte. Die einsetzenden Magenbeschwerden führte er auf Stress in seiner Firma zurück. Sie selbst besorgte ihm Schmerzmittel und Beruhigungstabletten gegen Schlaflosigkeit. Er starb schließlich durch einen Autounfall. Ob es eine Schmerzattacke oder nur Achtlosigkeit war, die ihn das Stoppschild übersehen ließ, würde Sinja nie erfahren und letzt endlich war es ihr egal. Es zählte das Ergebnis, und das war perfekt. Überrollt vom einem Laster lag Sven in seinem schwarzen Audi-Coupé, als übe er für seine spätere Rolle in der Leichenhalle. In der Erinnerung lächelte Sinja wehmütig und griff in den Küchenschrank. Das Marmeladenglas mit dem Glasstaub war noch halb gefüllt. Glück durch Glas. Mit dem Fuß bediente sie den Hebel des Abfalleimers. Das Schrillen des Telefons ließ sie innehalten. Neue Liebe, neues Glück. Am Anfang war es immer am schönsten. Ralf würde um sie werben, er würde sie auf Händen tragen, eine Zeit auf jeden Fall. Und später? Nun, sie war Frau genug, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Glück durch Glas. Sie stellte das Marmeladenglas in den Schrank zurück, bevor sie ans Telefon ging.


Feb. 2006

 

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