Den Mantel
längst an die Tür gehängt
Verheilt
die alten Wunden
Den Mantel
längst an die Tür gehängt
Geblieben
das Wissen um seine Wärme


(inspiriert durch folgendes Bild von Claudia Ackermann)

 

Der Mantel



Claudia Ackermann

 

Carpe Noctem

"Ripmav, Sandor Ripmav". Mit einer galanten Verbeugung stelle er sich der verdutzt dreinblickenden Fachbereichsleiterin der Volkshochschule vor.
Es war bereits Abend und Karla van Daudt sehnte sich nach einem heißen Bad.
"Oh, ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören! Bitte setzen Sie sich." Karla van Daudt wies auf einen vor ihrem Schreibtisch stehenden Stuhl. "Wie war noch Ihr Name?"
Sandor Ripmav zog eine blütenweiße Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie seinem Gegenüber. Esoterische Rückführungen war dort in schwungvollen Buchstaben unter seinem Namen zu lesen. Sonst nichts. Keine Adresse. Keine Telefonnummer.
"Was kann ich für Sie tun, Herr Ripmav? Ein sehr ungewöhnlicher Name übrigens", lächelte Karla van Daudt.
"Ich stamme aus Rumänien", erwiderte er charmant.
Karla van Daudt betrachtete ihn unauffällig. Hoch gewachsene, schlanke Statur, energisches Kinn, hohe Wangenknochen und auffallend helle, geheimnisvoll strahlende Augen. Das lange, bis auf den Rücken reichende schwarz-graue Haar war mit einem schmalen Lederband zusammengebunden.
Sandor Ripmav räusperte sich. "Ich möchte gerne einen Kurs an dieser Volkshochschule anbieten..."
Karla van Daudt konnte den Blick nicht von ihm lösen, war wie gefangen von dem seinen. Gerade war es, als verändere die Iris seiner Augen die Farbe, strahlte nun in schimmerndem Grün, anstatt wie zuvor in metallischem Blau.
"...Blut saugen für Anfänger habe ich als Titelthema gewählt. Die Teilnehmer werden sich tiefer und intensiver als sonst üblich mit den umfassenden Möglichkeiten befassen, welche die Esoterik uns bietet."
Sandor Ripmav hielt kurz inne und ein fast unmerkliches Lächeln huschte über sein Gesicht.
"Frau van Daudt, haben Sie mich verstanden?"
"Ja doch, ja...". Ein kleiner Schauer lief Karla van Daudt über den Rücken und nur mühsam löste sie sich aus den Tiefen seines Blickes.
*
Herbstsemester 2002, Kurs Nr. 1377
Blut saugen - eine Chance?
Durch diese unkonventionelle Methode werden Sie näher an Ihr wahres ICH herangeführt, lernen Ihre unbewussten Leidenschaften kennen, finden neue Kraftquellen, um die Zukunft zu meistern. Lösen Sie sich von Ihrem bisherigen unterwürfigen Rollenverhalten und zeigen Sie Ihrem Gegenüber die Zähne!
Mitzubringen sind: bequeme Kleidung und eine Decke.
*
Etwas nervös betrat Rebecca Fuchs den Seminarraum. Eigentlich verließ sie ihre Wohnung nach Eintritt der Dunkelheit nicht mehr und eigentlich wollte sie diesen Kurs gar nicht besuchen. Doch Sandra hatte gemeint, dass sie ihrem nicht vorhandenen Selbstbewusstsein mal etwas auf die Sprünge helfen sollte.
Rebecca setzte sich auf einen der im Kreis aufgestellten Stühle und ließ den Blick schweifen. Die Kursteilnehmer waren allesamt weiblich und lächelten sie freundlich an. Der Geruch von Staub lag in der Luft. Das da vorne musste der Kursleiter sein. Er wandte ihr den Rücken zu und beugte sich über eine große Tasche. Dann richtete er sich auf und drehte sich um.
"Guten Abend meine Damen ..."
Ein Raunen ging durch den Raum und dreizehn Augenpaare richteten sich bewundernd auf Sandor Ripmav.
Rebecca war es kaum möglich, seinen Worten zu folgen.
"Stell dich nicht so an!" ermahnte sie sich,"so schön ist er nun auch wieder nicht." Doch vergeblich, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
"Die erste Kursstunde habe ich bewusst zur Einführung in dieses komplexe Thema genutzt, ab nächster Woche werden wir uns dann auch den praktischen Übungen widmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit."
Rebecca schrak auf. Keines seiner Worte hatte sie erreicht. Doch sie freute sich schon auf die nächste Woche.
*
"Heute werden wir uns einer ganz besonderen Übung widmen. Sie wird Ihnen helfen, den zuweilen schmalen Grat zwischen Dominanz und Hingabe sicher zu beschreiten." Mit diesen Worten entzündete Sandor Ripmav in jeder Zimmerecke eine dicke elfenbeinfarbene Kerze und löschte das Licht.
Rebecca tat es den anderen gleich, legte sich erwartungsvoll auf ihre Decke und nahm wieder diesen eigenartig staubigen Geruch wahr.
Meditative Worte wurden gesprochen, begleitet von leiser, sphärischer Musik.
"Richtet euch langsam auf und blickt eurem Partner in die Augen. Ihr fühlt seine Gefühle, denkt seine Gedanken..., dann beugt euch über ihn, versenkt eure Zähne scheinbar in seinem Hals, fühlt Dominanz. Und Hingabe."
Rebecca tat, wie ihr geheißen, setzte sich auf und blicke direkt in die geheimnisvoll schimmernden Augen Sandor Ripmavs. Sie starrte ihn an, war wie gefangen von der Kraft seiner Aura, versank in seinem Blick.
"Komm mit mir, mein Engel, ich bin es, nachdem du verlangst, nur ich kann deine Phantasien und Leidenschaften entfachen."
Vibrierende Stille lag in dem Raum. Und doch hatte Rebecca seine Stimme deutlich vernommen.
"Du willst, dass dein Leben sich verändert, Glück für die Ewigkeit? All das kann ich dir geben."
Rebecca fühlte eine unbekannte Leidenschaft in sich aufwallen. Fühlte seine Gefühle, dachte seine Gedanken. Sanft strich Sandor Ripmav Rebeccas Haar zurück, nahm ihr Gesicht in beide Hände, so dass sie zu ihm aufblickte. Dann beugte er sich über sie. Sein Atem war heiß. Rebecca sah etwas weiß aufblitzen, konnte sich nicht bewegen, war glücklich.
Sie spürte nur einen kleinen Schmerz, als seine Zähne in die zarte Haut ihres Halses eindrangen. Ein roter Tropfen lief über ihr Dekolleté und sie hörte das Rauschen ihres Blutes als Sandor Ripmav an ihr trank.
*
"Oh mein Gott, oh mein Gott!", jammerte Karla van Daudt, als sie von dem tragischen Todesfall hörte. "Gestorben? Während des Kurses? Wie konnte das nur geschehen?"
Hans Naumann von der Mordkommission hatte ihr die Nachricht möglichst schonend überbringen wollen, was nur zum Teil gelungen schien.
"Tja, Frau van Daudt, es gibt da noch eine kleine Besonderheit betreffend den Tod von Rebecca Fuchs."
Karla van Daudt sah ihn fragend an. "Besonderheit? Reicht es denn nicht, dass sie einfach tot zusammenbricht?"
"Hm, ja... Draußen wartet Herr Ripmav, ich hätte ihn gerne bei diesem Gespräch dabei." Hans Naumann wandte sich zur Tür seines Büros und winkte Sandor Ripmav herein. "Bitte setzen Sie sich." Er musterte sein Gegenüber.
"Herr Ripmav, eine erste gerichtsmedizinische Untersuchung von Rebecca Fuchs hat ergeben, dass kaum noch Blut in ihren Adern floss. Wie können Sie sich das erklären? Besonders, da Ihr Kurs doch Blut saugen für Anfänger heißt."
Sandor Ripmav schaute mitfühlend von einem zum anderen. "Leider habe ich auch keine Erklärung dafür. Das Kursthema habe ich so gewählt, weil es auf dem Markt der Esoterik inzwischen schwer geworden ist, den Leuten noch etwas Neues zu bieten. Frau van Daudt kann Ihnen das sicher bestätigen, schließlich war sie von dieser außergewöhnlichen Idee ebenfalls begeistert."
Karla van Daudt schüttelte verwirrt den Kopf. "Tut mir leid, aber ich kann mich kaum noch an unser Gespräch erinnern. Es war schon recht spät, als Sie mich in meinem Büro aufsuchten."
"Warum tragen Sie eigentlich bei diesem regnerischen Wetter eine Sonnenbrille, Herr Ripmav?", versuchte Hans Naumann das Selbstbewusstsein Sandor Ripmavs zu erschüttern. "Nehmen Sie sie doch bitte einmal ab."
Sandor Ripmav hob spöttisch die Augenbrauen, erfüllte aber Hans Naumanns Wunsch.
Seine sonst so hellen Augen waren von feinen, roten Adern durchzogen.
"Eine Augenentzündung, deswegen trage ich die Brille. Das Tageslicht macht mir momentan sehr zu schaffen."
"Was soll das eigentlich heißen, es floss kaum Blut in Rebecca Fuchs´ Adern?" Karla van Daudt schnäuzte laut in ein Taschentuch.
"Tja, wenn es nicht unmöglich wäre, würde ich sagen, ein Vampir wäre über sie hergefallen." Hans Naumann zuckte seufzend die Schultern und fügte mit drohendem Unterton hinzu: "Aber wir werden schon noch herausfinden, wer ihr das angetan hat."
*
Niemand bemerkte die dunkle Gestalt, die suchend durch die nach Desinfektionsmittel riechenden Gänge des Krankenhauses schlich. Obduktion, hier musste sie sein. Er betrat den Raum, schloss die Augen, nahm Verbindung zu ihr auf. Schaute nicht nach rechts und nicht nach links, sondern bewegte sich auf eine stählerne Wand zu. Zielstrebig öffnete er das Schubfach mit der Nummer sieben, schlug das weiße Leinentuch zurück. Da lag sie. Schön und bleich. Sanft strich er über ihre kühlen Wangen, beugte sich über sie, küsste ihre blutleeren Lippen. Abrupt schlug sie die Augen auf, den Blick starr zur Decke gerichtet. Mit geübter Bewegung ritzte er seine Pulsader auf und bot ihr sein tropfendes Handgelenk dar. "Trink, mein Engel, trink!", raunte er mit heiserer Stimme. "Und du wirst ewig leben."
*
"Wie, weg?", brüllte Hans Naumann in den Telefonhörer hinein. "Die kann doch nicht einfach weg sein! Leichen verschwinden nicht so einfach! Keine Spur von einem Einbruch, sagen Sie? Wer hat denn Zugang zu den Obduktionsräumen? Prüfen Sie das gefälligst!" Er knallte den Hörer auf die Gabel und schnaubte. Dieser Fall war sowieso schon verzwickt genug. Dreizehn Personen waren dabei, als Rebecca Fuchs starb, aber angeblich hatte keiner von ihnen etwas bemerkt. Hans Naumann raufte sich die spärlichen Haare. Er musste noch einmal mit diesem undurchsichtigen Kursleiter sprechen.
"Hilda, wo zum Teufel ist die Ermittlungsakte Rebecca Fuchs? Ich brauche Adresse und Telefonnummer von diesem Ripmav." Suchend schob er die Papierstapel auf seinem Schreibtisch hin und her. Hilda reichte ihm den schmalen Ordner über den Schreibtisch hinweg zu. "Hier, aber eine Telefonnummer hat er nicht angegeben. Nur die Adresse, Friedhofstraße 77."

Ungläubig stand Hans Naumann in der Friedhofstraße. Dort, wo eigentlich das Haus mit der Nr. 77 stehen sollte, klaffte eine große Lücke. Marode Bausubstanz, erklärte ihm eine hilfsbereite Anwohnerin, das Haus wurde letzten Sommer abgerissen.
*
Wieder nahm Rebecca diesen eigenartig staubigen Geruch wahr. Doch diesmal schien es ihr, als würde sie sich direkt in seinem Zentrum befinden. Sie fühlte sich seltsam leicht, schien zu schweben wie eine Feder. Plötzlich ergriff jemand ihre Hand und sie nahm den sanften Schein unendlich vieler Kerzen wahr.
"Für dich, mein Engel", erklang eine Stimme an ihrer Seite. Rebecca blickte sich um. Sie befand sich in einem großen Raum, der einzig durch die Flammen des Kerzenmeeres erwärmt wurde. Die Wände bestanden aus riesigen Steinquadern, geschmückt mit Gemälden in opulenten Goldrahmen. Eine breite, mehrfach gewundene Treppe führte nach oben in einen anderen Teil des Gebäudes und ein mit schweren Eisenbeschlägen verziertes Holztor wies ihr den Weg in die Nacht.
"Wo... wo bin ich?" Verwirrt blickte sie ihr Gegenüber an. Er trug einen etwas altmodisch anmutenden Abendanzug, einen schwarzen, mit roter Seide gefütterten Umhang, und das lange, schwarz-graue Haar fiel offen über seinen Rücken. Er lächelte.
"Zu Hause, mein Engel, du bist nun endlich zu Hause." Er machte eine große Geste. "Dies ist mein Schloss. Heute Abend wird es zu deinen Ehren einen großen Ball geben. All meine Untertanen werden erscheinen." Er führte sie hinaus in die Dunkelheit und wies auf einen am Fuße des Schlosses liegenden Friedhof.
"Um Mitternacht werden sie aus ihren Gräbern steigen um dich willkommen zu heißen."
Ungläubig schaute Rebecca in die abgründigen Augen Sandor Ripmavs. Langsam kehrte ihre Erinnerung zurück. Sie betastete ihren Hals, fühlte die zwei kreisrunden Male. Etwas Blut klebte an ihren Fingern. Gierig leckte sie es ab und ein unerträgliches Verlangen breitete sich in ihr aus.
"Komm mein Engel", hauchte er mit rauer Stimme, "deine erste Mahlzeit wartet bereits auf dich."

Gabi Queisler
(2002)


 

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