Krimi (aus der Sendung "Lesestücke, Radio MK vom 27.11.06)

Lebenslänglich

"Er hatte ganz weiches, sonnenblondes Haar, das sich, wenn es etwas länger wurde, unter dem Rand seiner Mickey Mouse Kappe kringelte. Und hellblaue, funkelnde Augen, die immer alles neugierig und freudestrahlend untersuchten. Manchmal höre ich ihn noch heute so ausgelassen kichern. Ich habe mich immer gewundert darüber, dass er dieses herrliche Kichern trotz..." Sie schluckte. "...trotz allem nie verlernt hat.
Sie fügte leise: "...zumindest wenn sein Vater nicht in der Nähe war" hinzu und streichelte unaufhörlich mit ihrem Daumen über das vergilbte Foto ihres Sohnes.
"Hier hat er zum ersten Mal..."
Anne räusperte sich und fragte: "Und der Junge daneben ist Thomas Limberg?"
Frau Hänsel nickte und bot Anne ein weiteres Stück Zwetschenkuchen an.
"Sie sind schon zusammen in den Kindergarten gegangen. Wie oft habe ich David zu den Limbergs gebracht, wenn..." Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. "Oh mein Gott, er wird es nicht verkraften. Thomas war wie ein Bruder für ihn."
"Wie oft haben die beiden sich gesehen?"
Die ältere Dame starrte wieder auf das Foto.
"Die armen Limbergs. Wissen sie es schon?"
Anne nickte und wiederholte ihre Frage.
"Ich weiß es nicht. Ich nehme an oft. David besucht mich wenigstens zwei Mal in der Woche und erzählt, was er so treibt. Manchmal auch von Thomas. Vor einiger Zeit erzählte er, dass Thomas einen neuen Job hatte. Als Meister bei Hasselmann & Co."
"Wo arbeitet David?"
"Er ist schon seit ein paar Jahren in einer kleinen Computerfirma in Altena. Mischnik heissen die. Er schreibt Programme und betreut einige Unternehmen." "Was die EDV anbelangt" fügte Frau Hänsel hinzu. "Er ist schon als kleiner Junge immer gerne zu den Limbergs gegangen, weil Thomas ja schon einen eigenen Computer hatte. Von seinem Taschengeld und von dem, was er sich in den Ferien dazu verdient hat, hat er sich dann einen eigenen gekauft. Da hat er sich dann immer hinter verkrochen." Frau Hänsel blickte gedankenverloren aus dem Fenster.
"Hatten die beiden sonst noch gemeinsame Bekannte?"
Sie nannte ein paar Namen und was ihr zu den Personen einfiel.
"Wann haben Sie Thomas zuletzt gesehen?"
Frau Hänsel dachte kurz nach.
"Es ist schon eine Weile her. Es war noch kalt. Da hat David meinen Einkauf erledigt und Thomas kam mit hoch. Ich habe den beiden noch einen Kaffee gekocht. Früher saßen sie oft zusammen auf der Eckbank hier. Da habe ich ihnen immer Kakao gekocht."
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Und jetzt soll der Thomas tot sein. Das kann doch nicht sein. Und auf so eine furchtbare Art. Wer tut so etwas grauenvolles? Er war doch so ein guter Junge."
Sie schüttelte den Kopf und schneuzte dann ins Taschentuch.
"Die beiden waren so gute Freunde. Das verkraftet der David nicht."
Sie sah Anne an.
"Wie ist gleich Ihr Name?"
"Mellenkamp."
"Frau Mellenkamp, bitte, lassen Sie mich dem David das beibringen. Er soll es nicht von der Polizei erfahren. Es wird schwer genug für ihn."
Anne nickte.
"Wann wird ihr Sohn aus Travemünde zurück kommen?"
"Normalerweise wollte er erst am Wochenende kommen. Aber ich habe seine Handynummer. Ich werde ihn gleich anrufen und ihm sagen, dass es mir nicht so gut geht. Dann kommt er eher nach Hause."
"Ist er alleine dort?"
"Ja, er brauchte mal ein paar Tage Erholung. Sein Job ist wohl im Moment ziemlich stressig."
Anne stand auf und überreichte Frau Hänsel ihre Karte.
"Ok, sagen Sie ihrem Sohn bitte, dass er sich umgehend bei mir melden soll."
Frau Hänsel blickte auf die Karte, nickte stumm und erhob sich ebenfalls.
"Wann ist er gefunden worden, sagen Sie?"
"Eine junge Frau hat ihn gestern morgen gefunden."
"Seit wann wissen es die Limberg?"
"Wir waren direkt danach bei Ihnen."
Sie nickte während sie die Nase hochzog.
"Dann werde ich sie morgen erst anrufen."

Anne drehte die Klimaanlage bis zum Anschlag auf, aber der alte Saab schaffte es nur langsam die Hitze aus dem Auto zu verdrängen. Die Sonne knallte auf das schwarze Dach und Anne ließ es geschlossen, um sich vor der Mittagssonne zu schützen. Immer wieder sah sie den Toten mit den roten Pusteln vor sich. Ein junger Mann erstickt wegen einiger Wespenstiche . Ein scheußliches Bild. Ihr Telefon klingelte und Anne drückte die grüne Taste.
"Robert hier. Schon ausgeschlafen?"
"Wo bist Du Robert?"
"In der Pathologie, wo anders hält man es aus bei dieser Hitze?"
"Und?"
"Der Doc zählt 128 Stiche, einige davon postmortem."
"Warum hat er nicht das Zimmer verlassen oder die Fenster geöffnet?"
"Er hatte eine besonders schwere Form der Wespenallergie. Schon nach dem ersten Stich können Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Erbrechen und Pulsrasen auftreten und Betroffene verfallen manchmal in einen sogenannten anaphylaktischen Schock, der einen raschen Blutdruckabfall und Bewußtlosigkeit zur Folge hat. Da ist nix mehr mit klar denken."
Anne schüttelte sich.
"In Deutschland werden doch nur Paket mit Absender verschickt, oder?"
"Ja, der Absender ist genau wie die Adresse mit einer alten Schreibmaschiche geschrieben worden. Aber ihn gibt es nicht. Es lebt kein Adalbert Frischke in der Straße, die angegeben wurde."
"Hast Du schon mit dem Paketdienst gesprochen?"
"Ja, das Paket ist mit der Post gekommen und der Bote hat sich nur darüber gewundert, dass es so leicht war. Auch Hunderte der kleinen surrenden Wesen wiegen nichts. Sag mal, wenn die alle in dem Paket geflogen sind, war das Päckchen dann schwerer als wenn es ganz leer gewesen wäre?"
"Robert hast Du keine anderen Fragen? Was ist mir dieser Frau, die ihn gefunden hat? Steht sie immer noch unter Schock?"
"Sie hat sich beim Öffnen der Tür selbst noch ein paar Stiche zugezogen. Zum Glück hat sie die Tür wieder zugemacht bevor sie losgelaufen ist, um uns anzurufen. Ich habe nur kurz mit ihr gesprochen. Sie heisst Marion Schmidtke. Sie war mit Thomas Limberg verabredet und hatte sich gewundert, dass er nicht kam und auch nicht ans Handy ging. Da ist sie bei ihm vorbei gefahren und beim Öffnen der Wohnungstür kamen ihr die ganzen Viecher entgegen und ..."
"Ja ja, das weiss ich ja. War sie mit Limberg zusammen oder warum hatte sie einen Schlüssel?"
"Ja, sie waren wohl seit einiger Zeit etwas inniger, aber haben getrennte Wohnungen."
"Hat sie eine Idee, wer Limberg so über mitspielte?"
"Nein, sie weiss von niemandem, der ihn nicht mochte. Übrigens hat der Doc Marmeladenreste an den Wespen gefunden."
"Schwartau oder Zentis?"
"Hä?"
"Na das würden den Täterkreis einengen."
"Meinst Du, jemand hat die Wespen mit Marmelade angelockt, um sie zu sammeln?"
"Ja meist Du, sie hätten sich selber die Marmelade gekauft?"
"Aber Hunderte?"
"Stimmt. Wo kriegt jemand so viele Wespen her?"
"Woher weiss man überhaupt, ob jemand allergisch ist? Ich kenne keinen Wespenallergiker, Du?"
"Nö, ich weiss es nur von einer alten Nachbarin, die unseren Birnbaum abtun wollte, weil er immer die Wespen anzog und sie behauptete allergisch zu sein."
"Sehen wir uns gleich im Büro?"
"Ja, ich parke grade bei Hasselmann und Co. Da hat Thomas Limberg gearbeitet. Danach komme ich auch ins Büro."

David saß auf dem gleichen Platz auf der Eckbank, auf dem er damals gesessen hatte, als seine Mutter ihm von dem tödlichen Treppensturz seines Vaters erzählt hatte. Nur diesmal weinte sie und stammelte nach den richtigen Worten. David hatte sich damals so sehr geschämt, weil er nach der Nachricht keine Trauer sondern Erleichterung empfunden hatte. Seine Mutter hatte ihn trotz allem daran erinnert, dass er sein Vater gewesen war. Aber dann nach der Beerdigung, nachdem sie ihre schwarze Kleidung gegen ihr tristes Alltagskleid getauscht hatte, hatte sie sich in ihren Lieblingsstuhl neben den Ofen gesetzt, sich entspannt zurückgelehnt, die Augen geschlossen und gelächelt. Und da wusste David, das auch seine Mutter befreit von der Last des ständig alkoholisierten und aggressiven Mannes gewesen war.
Heute wirkte sie sehr alt und für ihre große Statur fast zerbrechlich, als sie ihm vom Tod seines besten Freundes erzählte. David beobachtete seine Mutter zunächst bewegungslos und sprach kein Wort. Sie erzählte von dem Besuch der Polizistin und unterbrach ihre Erzählung immer wieder, um sich zu schneuzen. Dann schwiegen Mutter und Sohn einen Augenblick bevor David in Tränen ausbrach. Genau auf dieser Eckbank hatten sie sooft zusammen gesessen und Kakao getrunken. Wie oft hatte das heiße süße Getränk sie wieder aufgebaut. Seine Mutter schien seine Gedanken zu erraten, erhob sich und stellte ihrem Sohn ein Stück Zwetschgenkuchen auf den Tisch. Dann stellte sie eine Tasse Milch in die Mikrowelle.
David lächelte unter Tränen und schob den Kuchen beiseite.
"Weiß Marion es schon?"
"Sie hat ihn gefunden. Die beiden wollten wohl zusammen irgendwohin fahren und als Thomas nicht kam, ist sie zu ihm gefahren."
"Mein Gott, es muss grauenvoll für sie gewesen sein."
"Ja, aber ich bin froh, dass sie ihn gefunden hat und Dir dieser Anblick erspart geblieben ist."

Anne und Robert trafen zeitgleich im Büro ein. Robert hatte noch mit einigen Nachbarn des Toten gesprochen.
"Sag mal, kann man schon etwas über den genauen Todeszeitpunkt sagen?"
"Die Forensiker wollen sich noch nicht festlegen. Aber der Postbote hat das Paket um zehn nach zehn abgegeben. Es war die erste Auslieferung nach seiner Frühstückspause, darum erinnert er sich so gut daran."
"Es wird nicht leicht für uns Robert. Der Todeszeitpunkt verrät uns nichts über den Mörder. Wann und wo ist das Paket aufgegeben worden?"
"Irgendwann vorgestern in Selschede. Von wem lässt sich natürlich nicht mehr nachvollziehen. Es werden zu viele Pakete aufgegeben."
"Wie lange halten sich so Viecher überhaupt im Pappkarton?"
"Keine Ahnung, auf jeden Fall könnte ich mir vorstellen, dass sie mächtig aggressiv werden, wenn man sie frei lässt."
"Wir müssen mit jemandem sprechen, der Ahnung von Wespen und Bienen und so einem Getier hat."
"Ich habe heute nachmittag einen Termin bei Dr. Mebach. Er ist Doktor der Biologie an der Uni."
"Ok, ich mache jetzt noch ein paar Termine mit den Bekannten von Limberg. Dann mache ich erst mal Mittagspause. Ich muss dringend einkaufen, unser Kühlschrank zeigt mal wieder gähnende Leere."

Anne schloss mit mehreren Tüten an der Hand und einem Baguette unterm Arm die Haustür auf und ging in die Küche. Dabei fiel ihr Blick durch die halb geöffnete Wohnzimmertür auf Mark.
"Ach Du Scheiße, was machst Du denn da?"
Er saß auf dem Sofa, die Spitze seiner Zunge zwischen den Lippen und blickte Anne unsicher an. In den Händen zwei Stricknadeln und ein Knäuel Wolle.
"Sieht es aus wie puzzeln?"
Anne ließ eine Einkaufstüte fallen.
"Was ist denn jetzt passiert?"
Mein Arzt hat gesagt, dass ich zu viel arbeite und etwas zum Entspannen brauche. Und Du sagst doch auch immer, ich soll mir mal die Ruhe antun und mich nicht nur mit Mord und Totschlag beschäftigen. Er blickte wieder auf seine ersten Maschen.
"Kannst Du nicht Fahrrad fahren? Oder Yoga machen oder so?"
Mark sah sie verständnislos an.
"Was hast Du denn gegen Stricken?"
Anne schüttelte den Kopf, ging zurück in die Küche und stellte die Taschen ab.
"Und wieso mittags?"
"Ich werde jetzt, wenn möglich, immer eine Mittagspause machen. Danach kann man dann viel entspannter wieder an die Arbeit gehen."
"Hast Du Drogen genommen?"
Mark schnaubte beleidigt.
"Sag mal, wenn jemand einem Wespenallergiker einen Karton voll Wespen schickt, ist das dann Mord?"
"Anne, ich habe Mittagspause."
"Komm sag schon."
"Ist das Opfer denn tot?"
"Sonst würde ich ja nicht von Mord sprechen."
"Hat der Täter denn beabsichtigt das Opfer umzubringen?"
"Warum sonst schickt man einem Allergiker einen Karton Wespen?"
"Vielleicht um ihn zu erschrecken. Oder ihn zu verletzten. Vielleicht wusste der Täter auch nicht von der Allergie und wollte dem Opfer eine Freude machen. Was weiss ich. Es gibt viele Möglichkeiten. Vielleicht hat er den Tod in Kauf genommen. Das ist dann auch etwas anderes als beabsichtigt. Eventuell wusste er auch nicht, dass es tödlich enden wird. Das kommt ganz auf die Umstände... Mist, jetzt ist wieder eine weg."
"Das kann ja heiter werden. Ich mache uns schnell einen Salat."
"Sag mal Anne, kannst Du eigentlich stricken?"
"Nö. Wusstest Du, das es in Deutschland jedes Jahr 40 tote Wespenallergiker gibt, die durch den Stich einer Biene oder Wespe sterben?"
Mark fluchte schon wieder.
"Sterben auch welche, die versehentlich mit ihren Stricknadeln abrutschen?"
"Es wird bald einen geben, der mit welchen erstochen wurde."
Mark schwieg einen Augenblick. Dann fragte er:
"Habt Ihr schon Spuren?"
Anne begann Paprika in eine Schüssel zu schnibbeln.
"Nein. Das Opfer lebte alleine, ist von einer Bekannten, die einen Schlüssel zu seiner Wohnung hat, gefunden worden, weil er nicht zum gemeinsamen Treffen erschienen ist und nicht ans Telefon ging. Das schlimmste ist, das es außer dem Pappkarton, in dem die Viecher verschickt worden sind, keine Spuren gibt. Es ist ähnlich einer Briefbombe, wo der Mörder weder mit dem Opfer noch mit seinem Umfeld in Berührung kommt. Aber dafür muss der Mörder wenigstens Bombenbauen können oder sie beschaffen."
"Und der Karton ist 0815 nehme ich an?"
"Wird grade untersucht, scheint aber wohl ein normaler Pappkarton zu sein."
"Wie alt war das Opfer?"
"So alt wie ich."
"Ein unschöner Tod mit 38."
Anne ließ ihr Schälemesser fallen.
"Mark, ich bin erst 36."
Mark legte sein Strickzeug beiseite und trat hinter Anne.
"Trotzdem sollten wir langsam über Kinder nachdenken".
"Jetzt fang nicht wieder damit an."
Er drehte sie zu sich um und näherte sich ihren Lippen.
"Dann lass uns wenigstens so tun als ob."

Eine gute Stunde später saß Anne wieder im Büro. Robert breitete einige Fotos des Opfers auf Annes Schreibtisch aus. Dem Toten, der übersät mit roten Flecken und Schwellungen war, stand der Mund offen, als hätte er versucht, ein letztes Quentchen Luft zu bekommen. Das Entsetzen stand noch in seinen Augen. Anne atmete tief durch und wandte sich ab.
"Tu die weg, Robert."
"Anne, Du bist hier bei der Mordkommission und nicht beim Malen nach Zahlen."
"Wem nutzt es, wenn ich mich mit diesen Bildern quäle. Wir wissen doch, wie der Tod eingetreten ist, oder? Was sagt der Doc der Biologie?"
Robert ließ sich auf seinen Stuhl fallen, trank langsam einen Schluck aus seiner Wasserflasche und blickte in seinen Terminkalender. Dann blickte er auf seine Uhr, schnalzte einmal mit seiner Zunge und lehnte sich zurück. Er wusste, dass er Anne mit dieser Hinhaltetechnik in den Wahnsinn trieb.
"Wann hörst Du endlich mit diese Wichtigtuerei auf?! Hast Du den Täter schon überführt, oder was?"
"Also, die häufigsten Symptome einer Wespenstichallergie sind ein Jucken am gesamten Körper, Schwellungen und Hitzegefühl, im schlimmsten Fall bricht der Kreislauf durch den allergischen Schock zusammen."
Anne begann sich zu kratzen.
"Da eine Wespe beim Stechen nicht stirbt, kann sie öfter zustechen. In unserem Fall ist es besonders spannend, da die größte Gefahr von einem in Aufruhr versetzen Volk ausgeht: Die Menge der Stiche kann beim Menschen lähmende oder sogar tötliche Nervenlähmungen hervorrufen. Auch eine einzelne Wespe kann einen Menschen töten, wenn sie versehentlich verschluckt oder eingeatmet wird: ein Stich im Hals kann zu einer so starken Schwellung führen, dass ohne ärztliche Hilfe die Luftröhre verschlossen wird und Tod durch Ersticken eintritt. Der Arzt meint, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Limberg in seiner Panik um sich geschlagen, geschrien oder wegen seiner Atemnot hastig nach Luft geschnappt und dabei eins oder mehrere Tierchen geschluckt hat."
Anne setzte sich kerzengrade in ihren Stuhl und betastete vorsichtig ihren Hals während sie schluckte. Robert fuhr fort.
"Symptome treten bei Allergikern nicht nur an der Einstichstelle auf, sondern auch in anderen Regionen des Körpers. Handflächen und Fußsohlen können anfangen zu jucken und zu brennen, an der Haut bildet sich eine Nesselsucht, Schleimhäute jucken und schwellen an, das Atmen fällt schwer, Übelkeit und Erbrechen quälen den Gestochenen, der Kreislauf bricht zusammen. Und die lieben kleine Tierchen können sich an ihrem Opfer genüsslich tun."
"Ist gut jetzt Robert. Ich will ab sofort nur noch Infos, die unbedingt notwendig sind oder wenn ich danach frage."
"Die Frage ist, warum Thomas Limberg sich bei dieser ausgeprägten Form der Allergie nicht einer Desensibilisierungsbehandlung unterzogen hat. Oder ober er zu den 10 % gehört hat, bei denen die Behandlung nicht anschlägt."
Robert schwieg und Anne begann mit den Fingern auf ihrem Schreibtisch zu trommeln während sie ihren Kollegen mit stechendem Blick betrachtete.
"Also" begann Robert wieder
"durch eine Desensibilisierungsbehandlung kann die übertriebene Immunreaktion des Allergikers auf Vespidenstiche wieder normalisiert werden. Dabei wird das aufbereitete Insektengift zuerst sehr stark verdünnt, später zunehmend stärker konzentriert unter die Haut des Betroffenen gespritzt. Die Abstände zwischen den einzelnen Spritzen werden zunehmend verlängert. Die Behandlung findet dann über etwa 3 bis 4 Jahre in monatlichen Abständen statt. Nach einer Überprüfung des Desensibilisierungserfolgs durch einen absichtlich gesetzten Stich der entsprechenden Vespide wird dann die Behandlung beendet. Das Immunsystem reagiert wieder normal. Diese Behandlung ist bei über 90 % der Vespidenallergiker erfolgreich."
"Sag mal, wusste diese Marion Schmittke von Limbergs Allergie?"
"Sie sagt nein."
"Hat der Doc gesagt, woher man soviele Wespen bekommt und wielange sie im Karton überleben können?"
"Wenn mit einer Nadel einige Löcher in den Karton gestochen worden sind, schaffen sie locker mehrere Stunden, vielleicht auch ein oder zwei Tage. Und so einen Staat zu bekommen, ist keine riesengroße Aufgabe. Dr. Mebach meint, je nach Art der Wespe, es gibt tausende von Arten, reicht ein ruhiges, schattiges, geschütztes Plätzchen. Man könnte sie im Frühjahr mit einem Kleck Süßen anlocken und mit ein wenig Glück beginnen sie ihr Nest zu bauen."
"Zwetschgenmarmelade zum Beispiel."
Robert nickte.
"Und wie kriegt man die Wespen in einen Karton?"
"Imkerausrüstungen und Schutzanzüge und -masken gibt es an jeder Ecke."
"Du meinst Deckel auf, Nest rein, Deckel zu?"
"Klar, mein Großvater hat Nester bei uns auf dem Dachboden früher ohne Schutz entfernt. Und weißt Du wie?"
"Du kannst es sowieso nicht für Dich behalten, Robert."
"Er hat eine Gartenspritze mit Spüli und Wasser gefüllt und die Ladung in das Nest gespritzt."
"Die müssen ihn doch zerstochen haben."
"Nee, er sagte immer, dabei gehen fast alle kaputt und außerdem war ja nicht er der Feind, sondern die Spritze."
"War das Nest denn noch im Karton?"
"Ja, es war vom Transport zwar nicht mehr intakt, aber es war im Karton."
"Und man kann wirklich das ganze Nest irgendwo abmachen?"
"Wespen bauen ihre Nester aus Zellulose, d. h. zerkautem Altholz. Das sieht nicht nur aus wie graues Umweltpapier sondern ist auch so stabil."
"Hört man das eigentlich nicht, wenn so ein Haufen Wespen in einem Karton eingesperrt sind. Die müssen dort Krach machen?"
"Der Karton war mit Styropor ausgekleidet, in denen kleine Löcher gebohrt worden waren. Mit feinen Stricknadeln oder so."
"Mit Stricknadeln? Die Dinger verfolgen mich langsam."
"Wieso?"
"Ach nichts."
Anne blickte sie aus dem Fenster.
"Wir haben bislang nur einen Toten und eine Todesursache. Keine Spuren, kein Motiv, keine Verdächtigen. Jemand der so pervers ist, einem Wespenallergiker einen Wespenstamm zu schicken, muss schon sehr hassen, findest Du nicht?"
"Oder sehr klug sein. Er hinterlässt keine Spuren."
"Wir können noch nicht einmal Alibis überprüfen, weil das Päckchen irgendwann in den letzten Tagen irgendwo aufgegeben worden sein kann."
"Das ist schon ein echter Fall für Profis" sagte Robert und grinste Anne an.
Es klopfte und gleichzeitig wurde die Bürotür geöffnet.
"Hi."
Anne lächelte ihrem Kollegen zu. Robert sagte:
"Peter, ich hoffe, Du hast einen trifftigen Grund dafür, uns bei wichtigen Ermittlungen ..."
"...aus dem Schlaf zu reissen wolltest Du sagen. Er grinste, machte eine kurze Pause und fuhr dann fort:
"Also..."
Anne schnaubte verächtlich.
"Jetzt fang Du nicht auch noch so an."
Peter Zimmerer grinste.
"Vespula germanica."
Anne und Robert blickten ihren Kollegen fragend an.
"Die Deutsche Wespe. Sie und die Gemeine Wespe sind die, die in Deutschland am meisten vorkommen. Sie bilden die größten Völker, mehrere tausend Arbeiterinnen, und sind die einzigen, die Menschen gegenüber zudringlich werden und sich auch über menschliche Nahrung hermachen. Dies ist immer dann besonders der Fall, wenn sich im Spätsommer die Nester auflösen und die noch lebenden Arbeiterinnen auf Nahrungssuche einzeln durch die Gegend streunen. Und wenn man ihre Nester entfernt und sie in Pappkartons steckt, mögen sie das auch nicht. Und die Wespen, die den armen Kerl so übel zugerichtet haben, sind nicht die Gemeinen, sondern die Deutschen Wespen gewesen. Obwohl die ja auch ganz schön gemein waren."
Zimmerer haute sich auf seine Schenkel und begann zu brüllen. Als Anne und Robert eine Grimasse schnitten, verstummte er.
"Ich habe auch mit einem Kollegen von der forensischen Entomologie gesprochen."
"Mit wem?" fragte Anne.
"Das willst Du nicht wirklich wissen" grinste Robert und Peter Zimmer sagte:
"Die befassen sich eigentlich mit der Aufklärung der Todesumstände mittels Interpretation von Insektenfunden bei Leichen."
"Also Madenpuler" bemerkte Robert.
"Ja, davon gibt es weltweit nur rund 100. Man nennt sie auch kriminalistische Insektenexperten, wenn Euch das lieber ist."
Anne hatte sich zurück gelehnt und versuchte so lässig wie möglich zu wirken.
"Und was sagt dieser Insektenexperte?"
"Wie gesagt, also eigentlich befasst er sich nicht mit Insektenstichen oder -bissen, die zum Tode führen, sondern mit Maden und..."
"Das habe ich schon verstanden, aber was hat er den nun so wichtiges gesagt?"
"Er meinte, es sei ein Wunder, dass so eine geniale Tötungsmethode nicht öfter durchgeführt wird und dass Ihr anhand der Spuren den Täter niemals überführen werdet."
Zimmer verkreuzte die Arme vor der Brust und blickte wie jemand, der sehr wichtige Erkenntnisse weitergegeben hatte.
"Ich halts vor lauter Wichtigtuerei hier nicht mehr aus. Du kommst hier rein, offenbarst uns die grandiose Neuigkeit, dass der Tod durch eine Deutsche Wespe eingetreten ist, teilst uns mit, dass Du mit einem von 100 forensischen Entomologen oder wie die heissen gesprochen hast und der gesagt hat, wir finden den Täter ohnehin nicht?! Und jetzt willst Du auch noch Beifall, oder was?"
Zimmmer schaute beleidigt drein.
"Und er kann nicht glauben, dass jemand der so allergisch ist, kein Antihistaminikum, kein Kortison-Präparat, noch nichtmal ein Adrenalin-haltiges Spray besitzen soll."
"Wahrscheinlich hatte er eine Notfall-Apotheke, aber die stand sicher nicht am Küchentisch, wo er das Paket geöffnet hat, sondern im Bad oder so. Und bis dahin hat er es sicher nicht mehr geschafft. Was sagt denn die Spusi dazu?"
Robert drückte eine Taste seines Telefons und begann kurz darauf zu sprechen. Er nickte und legte wieder auf.
"Klar, steht alles bei Limberg im Alibert."
"Ach das wir das auch noch erfahren!"
"Und sie haben einige Fingerabdrücke gesichert, die nicht von dem Opfer sind. Wir sollen ihnen welche zum vergleichen zukommen lassen. Auf dem Pappkarton sind natürlich keine Fingerabdrücke."
"Dann lass uns die von der Marion Schmittke und von seinem besten Freund David schon mal testen."
"Was nutzt es uns zu wissen, dass die bei Limberg zu Besuch waren? Das beschreitet doch niemand, oder?"
"Irgendwo müssen wir ja anfangen. Er hat nichts zu vererben, laut Arbeitskollegen und Chef war er ein fleißiger, kluger und umgänglicher Mensch in mittlerer Position. Er hatte mit niemandem Streit, keiner neidete ihm seinen Job."
"Aber irgendwer muss ihn gehasst haben. Also muss es dafür einen Grund geben."
Peter Zimmerer guckte zwischen Robert und Anne hin und her.
"Braucht ihr mich noch?"
"Haben wir Dich überhaupt gebraucht?"
Robert war entsetzt.
"Anne".
Zimmerer sagte kein Wort, drehte sich um und ging schnellen Schrittes zur Tür.
"Peter?"
Annes Stimme klang versöhnlich. An der Tür drehte Zimmerer sich um und blickte seiner Kollegin giftig ins Gesicht.
"Danke."
Seine Gesichtszüge lockerten sich ein wenig, aber er verschwand ohne einen weiteren Ton.
"Gegen dem seine Angeberei bist Du wirklich ein Waisenknabe."
"Du vergisst, dass wir ihn manchmal dringend brauchen. Was machen wir jetzt?"
"Wir brauchen ein Motiv, Robert. Komm wir fahren nochmal zu den Eltern und zu dieser Marion und sehen uns auch nochmal in seiner Wohnung um. Morgen wird der David Hartung sich hoffentlich melden. Das ist sein bester Freund seit Kindertagen. Mit der Mutter habe ich schon gesprochen. Die hat an dem Limberg gehangen wie an ihrem eigenen Sohn."
Die beiden verließen das Büro und gingen zum Auto.
"Wie kommst Du denn an die Mutter von dem Freund?"
"Von Limbergs neugieriger, redseligen Nachbarin. Sie sagt, David Hartung sei bei Limberg ein und aus gegangen. Sie wusste sogar, dass er für ein paar Tage verreist ist und hatte mir die Adresse von der Mutter gegeben. Ist wohl eine Bekannte von ihr."

Anne und Robert durchwühlten sämtliche Schubladen, kontrollierten alte Kontoauszüge, Arbeitsverträge, Rechnungen. Robert blätterte in Aktenordnern und alten Briefen, Anne überprüfte Datei für Datei seines Computers. Sie las gerade seine letzten E-Mails als Robert mit einer Digitalkamera hinter ihr auftauchte.
"Sag mal, wer so ein Ding hat, muss auch irgendwo die Bilder speichern, oder? Hast Du schon Fotos auf dem Rechner gefunden?"
"Nur einen Ordner, in dem er offensichtlich Bilder gesammelt hat, die er per E-Mail geschickt bekommen hat. Hier sind einige von einem Betriebsfest und gemeinsamsen Weihnachtsfeiern mit Kollegen. Aber höchstens 20 Stück. Ich kann nichts auffällges darauf erkennen."
"Dann müssen wir wohl nach CD´s suchen."
Er blickte sich im Zimmer um und bemerkte in einer Ecke unter dem großen Schreibtisch mehrere Plastikkisten, auf denen ein Berg von Computerzeitschriften lag. Er kniete sich neben Anne auf dem Boden und begang die erste Kiste zu durchsuchen. Es waren 8 große CD-Behälter mit ungefähr jeweils 50 CD´s.
"Na dann hast Du ja erstmal was zu tun. Ich fahr nochmal zu den Limbergs. Wir sehen uns im Büro wenn Du fertig bist."
"Fragt sich nur an welchem Tag."

Frau Limberg öffnete die Tür. Sie hatte kleine rote Augen mit dunklen Rändern. In ihrem schwarzen engen Kleid wirkte sie so bleich wie die Wand hinter ihr. Sie bat Anne herein und schenkte ihr einen Kaffee ein.
"Mein Mann ist arbeiten. Er sagt, er wird verrückt zu Hause."
"Frau Limberg, warum hat ihr Sohn sich nicht einer Desensibilisierungsbehandlung unterzogen? Es besteht eine Heilungschance von 90 %."
Sie nickte.
"Wir haben ihn früher immer wieder gedrängt das zu tun, aber er hatte Angst. Er sagte immer, der Gedanke daran, dass man ihm dieses Gift direkt unter die Haut spritzen würde, macht ihn wahnsinnig. Wir haben irgendwann aufgehört darüber zu sprechen. Wir haben ja auch nie damit gerechnet, dass es tödlich enden würde."
Sie verschluckte die letzte Worte und begann zu weinen. Anne ließ ihr einen Augenblick Zeit und fragte dann:
"Wer außer David Hartung war noch eng mit Ihrem Sohn befreundet?"
"Thomas und David sind ja schon seit der Kindergartenzeit Freunde. Ich glaube, der David war schon sein bester Freund. Er hatte noch ein paar Arbeitskollegen, mit denen er mal ausging, aber die kenne ich nicht mit Namen."
"Und welche Frauen gab es im Leben Ihres Sohnes?"
"Da hat er mir nie was von erzählt. Er hat auch nie jemanden mitgebracht. Ich glaube, so eine richtig feste Beziehung hatte er nicht."
"Kennen Sie Marion Schmittke, die Frau, die ihn gefunden hat?"
Frau Limberg begann an ihrem Daumnagel zu zupfen.
"Ja, mit der habe ich ihn mal gesehen."
"Waren die beiden enger befreundet?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"War sie mal mit hier?"
"Ja, einmal hat er sie mitgebracht, aber das ist schon länger her."
"Wer wusste alles von der Wespenallergie Ihres Sohnes?"
"Also der David auf jeden Fall. Wir mussten ja früher als die beiden noch klein waren immer darauf achten, dass der Thomas nicht gestochen wird."
"Marion Schmittke auch?"
"Das denke ich schon. Er hat ja immer so ein Notfallspray bei sich. Und im Sommer sitzt er nicht gerne draußen. In Eisdielen und Cafes ging er fast gar nicht. Das fällt einem Begleiter ja auf."
"Überlegen Sie nochmal, kennen Sie sonst jemanden, mit dem Thomas enger befreundet war oder mal eine Beziehung hatte. Wer hatte einen Grund, ihn so zu hassen?"
Frau Limberg begann leise zu weinen. Sie schüttelte heftig den Kopf.
"Der Thomas war ein ganz lieber Kerl. Er hat niemandem was getan."

Als Anne ins Büro kam, hatte Robert ihr vier ausgedruckte Fotos auf den Schreibtisch gelegt. Sie waren an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Jahreszeiten aufgenommen. Auf allen waren David Hartung, Thomas Limberg und Marion Schmittke zu sehen. Allerdings war deutlich zu erkennen, das zu dieser Zeit noch David und Marion liiert gewesen waren.
"Alles Bilder vom letzten Jahr. Zumindest sind sie zu unterschiedlichen Zeiten des letzten Jahres auf den Rechner gezogen worden."
"Na, da haben wir doch ein erstes Motiv."
"Allerdings ist es merkwürdig, dass es auch ganz neue Fotos von den dreien gibt, auf denen immer noch alle lächeln. Anders ist nur, dass Marion Schmittke nun mit Limberg Händchen hält. Wenn Mark zu Deiner besten Freundin wechseln würde, würdet Ihr dann noch weiterhin zu dritt fröhlich etwas unternehmen?"
"Seltsam, dass Frau Hartung mit nichts von diesem Dreiergespann erzählt hat, wo sie ihrem Sohn doch so nahe steht. Der Name Marion Schmittke ist gar nicht gefallen."
"Vielleicht ist ihr die Geschichte peinlich, so ein unsolider Lebenswandel ist nichts für ältere Leute."

Am nächsten Tag rief David Hartung bei Anne an. Robert und Anne trafen sich kurz darauf bei ihm in der Wohnung. Er wirkte müde und nervös. Und er hatte eine Alkoholfahne, die sich trotz seines Kaugummis nicht verbergen ließ. Sie setzen sich auf einen kleinen Balkon und David bot ihnen ein Glas Wasser an.
"Herr Hartung, waren Sie privat in Travemünde?"
"Ja, ich habe einige Tage Urlaub gemacht. Bis meine Mutter anrief und mir vom Thomas Tod erzählte."
Er schluckte. Die Worte kamen ihm schwer über die Lippen.
"Waren Sie allein dort?"
"Ja."
Robert stellte die Fragen während Anne sich im Zimmer umsah. Dann fragte sie:
"Wann haben Sie Herrn Limberg zum letzten Mal gesehen?"
"Es ist schon ein paar Tage her. Ich habe in letzter Zeit viel gearbeitet. Warten Sie mal."
Er stand auf und verschwand in der Küche, in der ein Kalender hing.
"Vorletzten Dienstag, da war er hier."
"Haben Sie gemeinsame Bekannte?"
"Früher gehörten wir der gleichen Clique an, aber die hat sich irgendwann zersplittet und seit dem haben wir jeder unseren eigenen Bekanntenkreis. Ich sehe einige seiner Bekannten schon mal auf Geburtstagen oder wenn wir zufällig zusammen treffen."
"Hatte Herr Limberg eine feste Freundin?"
"Fest? Was ist schon fest heutzutage? Wir wollten beide noch keine Familie. In letzter Zeit ist er oft mit Marion Schmittke zusammen. Sie hat ihn wohl auch gefunden, sagte meine Mutter."
"Wie standen sie zu Marion Schmittke?"
David rutschte auf dem Stuhl hin und her und verschränkte die Finger ineinander.
"Wir kennen uns schon sehr lange, haben in letzter Zeit nicht mehr so viel mit einander zu tun. Wir sahen uns nur noch manchmal zufällig bei Thomas."
"Wie lange hat ihre Beziehung mit Marion Schmittke gedauert und seit wann sind sie nicht mehr zusammen?"
David guckte wie ein ertapptes Kind. Dann lächelte er.
"Hat meine Mutter Ihnen erzählt, dass wir mal zusammen waren? Sie wollte am liebsten, dass wir sofort heiraten und Kinder kriegen. Sie hielt uns immer für das Traumpaar und hing an Marion als sei sie schon ihre Schwiegertochter. Dabei haben wir uns öfter gestritten als gesehen."
Anne und Robert schwiegen. David sprach weiter.
"Wir waren mehrere Jahre zusammen. Konnten nicht mit und nicht ohne einander. Und der arme Thomas musste immer schlichten."
Dann schwieg er wieder in Gedanken versunken.
"Und weiter?"
"Nichts und weiter. Irgendwann ging es nicht mehr mit uns. Da hat Marion zu Thomas übergewechselt. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Thomas war ein liebenswerter, friedlicher Mensch."
"Und ihrem Freund? Konnten Sie es dem auch nicht verübeln, dass er ihre problematische Situation ausgenutzt hat?"
"Nein. Er hat sofort mit mir gesprochen. Ja, erst war ich kurz geschockt, weil ich an so etwas nie gedacht hatte. Aber dann wurde mir klar, dass es sowieso nicht so weiter gehen konnte. Ich wollte nicht auch noch Thomas verlieren. Also wünschte ich den beiden viel Glück."
"Hat sich die Beziehung zu ihrem Freund seit dem verändert?"
"Nein, wir waren vielleicht etwas weniger zusammen, weil er natürlich oft mit Marion unterwegs war, aber wir haben uns nach wie vor super verstanden. Am Anfang haben wir sogar öfter mal was zu dritt gemacht."
Robert grinste und Anne trat ihm unauffällig vor das Schienbein.
"Ich meine Ausflüge oder ins Kino gehen und so" fügte David hastig hinzu.
Anne bat kurz zur Toilette gehen zu dürfen, David erklärte ihr den Weg und sie ließ die beiden Männer alleine. In der Küche drehte sie sich um und als sie sich unbeobachtet fühlte, ging sie zu dem Küchenkalender und überflog die letzten Tage. Sie konnte die handschriftlichen Einträge nicht alle lesen, aber am Dienstag, dem 11. August stand wirklich letztmalig "Thomas" darin. Für vergangenen Montag war "Travemünde" eingetragen. Anne drehte sich um und stieß dabei mit dem Fuß vor eine leere Flasche, die in einer kleinen Niesche stand. Erschrocken blickt sie über die kleine Theke zum Balkon, aber die Männer unterhielten sich weiter. Sie bückte sich, stellte die Flasche wieder an ihren Platz und entdeckte dahinter mehrere Einkochgläser. Vorsichtig nahm sie eines in die Hand. Es klebte ein kleiner Zettel darauf, auf den mit blauem Kugelschreiber "Zwetschgen 05" geschrieben war. Die anderen Gläser waren mit dem gleichen Aufkleber beschriftet. Dahinter standen noch zwei weitere Gläser mit der Aufschrift "Zwetschgen 04". Anne stellte die Gläser leise zurück und ging dann wieder auf den Balkon. Robert fragte gerade:
"Haben Sie eine Idee, wer Ihrem Freund so übel mitgespielt haben könnte?"
David schüttelte den Kopf.
"Thomas war wirklich ein liebenswerter Kerl. Ich hoffe nur, Sie finden das Schwein bald. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann lassen Sie es mich wissen."
"Wusste Marion Schmittke von Thomas Wespenallergie?"
"Das denke ich ja schon. Sie haben sicher mal darüber gesprochen. Andererseits bewusst sagen, kann ich es nicht. Thomas hat in den letzten Jahren fast gar nicht mehr davon gesprochen, weil ihn jeder dazu gedrängt hat, diese Behandlung zu machen, vor der er so einen Schiss hatte."
Er blickte kopfschüttelnd vom Balkon.
"Mensch, wenn er sich so nicht so dagegen gewährt hätte, dann könnte er jetzt noch leben."

Anne und Robert verabschiedeten sich und fuhren ins Büro. Auf der Fahrt fragte Anne:
"Wissen wir, was für Marmelde an den Wespen klebte?"
"Kommt jetzt wieder die Zentis- oder Schwartau-Nummer?"
"Nein, ich meine, welche Frucht?"
"Nein, Du kannst ja unseren Kollegen aus der Forensik nochmal fragen."
Anne verdrehte die Augen.
"Vielleicht liegt der Bericht ja schon auf unserem Schreibtisch."
"Warum fragst Du nach der Sorte?"
"Weil David Hartung ein ganzes Arsenal an Zwetschgenmarmelade in seiner Küche stehen hat."
"Du hast doch nicht etwa in seinen Schränken geschnüffelt?"
"Nein, sie stehen auf dem Fußboden in einer kleinen Niesche. Ich habe sie entdeckt, als ich in seinem Kalender geschnüffelt habe."
Robert grinste und fragte dann:
"Warum hat er sie wohl auf dem Boden stehen?"
"Vielleicht ist es Fallobst."
Robert verdrehte die Augen, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. Dann sagte er:
"Wahrscheinlich wollte er sie verstecken."
"Dann ist das Versteck aber nicht sonderlich gut."
"Vielleicht isst er auch soviel von dem Zeug."
"Darum hat er auch noch welche von 2005 oder was?"
"Vielleicht kocht er ein."
Anne runzelte die Stirn.
"Kochst Du ein?"
"Natürlich nicht, aber gibt Männer, die auf sowas stehen. Kochen, handarbeiten und so weiter."
Anne schluckte und beiden schwiegen eine Zeitlang bis Robert sagte:
"Komm wir fahren nochmal zu der Schmittke."

Marion Schmittke öffnete schlaftrunken die Haustür. Auf der Spüle standen zwei leere Weingläser, neben dem Mülleimer eine leere Flasche Wein. Sie setzte sich in einen Sessel und bot Anne und Robert einen Platz gegenüber auf dem Sofa an.
"Frau Schmittke, wie kommt es, dass sie nichts von Thomas Limbergs Wespenallergie wussten?"
"Ich weiss es nicht, vielleicht hat Thomas mir nichts erzählt, weil ich immer so besorgt bin. Jetzt im Nachhinein muss ich schon daran denken, dass er immer so heftig reagiert hat, wenn eine Wespe in unsere Nähe kam. Es saß auch nicht gerne draußen."
"Wie ist Ihr Verhältnis zu David Hartung?"
Sie rieb sich die Augen.
"Wir waren einige Jahre zusammen bevor Thomas und ich uns näher kamen, aber irgendwie sollte es nicht sein mit uns."
"Wie hat David ihren Wechsel aufgenommen?"
"Erst war ziemlich entsetzt, dann schien er es akzeptiert zu haben. Wir haben uns aber auch nicht mehr so oft gesehen. Wir haben lange nicht mehr soviel zusammen gesprochen wie gestern."
"Gestern?"
Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar als ihr offenbar bewusst wurde, dass ihre Aussage erklärungsbedürftig war.
"Ja, er rief mich völlig verstört an, als seine Mutter ihm mitgeteilt hatte, was geschehen war. Wir sprachen nur kurz am Telefon. Abends ist er dann hier gewesen. Wir haben schließlich beide unserern besten Freund verloren."
Sie hielt sich die Hände vor ihr Gesicht und begann zu schluchzen.
"Wie ernst war ihre Beziehung zu Thomas?"
Sie schneuzte in ein Taschentuch und sprach dann sehr leise.
"Wir wollten im nächsten Jahr heiraten. Wir waren dabei, uns eine gemeinsame Wohnung zu suchen."
"Wusste David davon?"
"Keine Ahnung, von mir nicht. Ich sagte ja, wir hatten bis gestern nur noch selten Kontakt, und nur noch wenn Thomas dabei war. Zusammen haben wir nicht darüber gesprochen. Wir wollten es noch nicht an die große Glocke hängen.."
"Haben Sie gestern darüber gesprochen?"
"Nein, wir haben uns nur über Thomas unterhalten. Darüber was er für ein toller Mensch war. Und wir haben uns immer wieder gefragt, wer ihm so etwas antun könnte."
"Und haben Sie eine Idee?"
"Nein, ganz und gar nicht. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob es eine Verwechselung gewesen sein könnte, weil ich mir nicht vorstellen kann, wer Thomas so gehasst haben kann."
"Frau Schmittke können Sie sich vorstellen, dass Thomas David von ihrer geplanten Hochzeit erzählt hat und David sie verhindern wollte?"
Marion Schmittke blickte Anne entsetzt an.
"Der David soll seinen besten Freund umgebracht haben? Niemals, der hat an ihm gehangen wie an einem Bruder."
"Vielleicht hat er auch an ihnen so gehangen."
Sie schüttelte heftig den Kopf.
"Der David könnte keinen Mord begehen. Und wenn, dann hätte er eher mich umgebracht als Thomas."

Zurück im Präsidium, es lag noch kein Bericht der Forensik auf Annes Schreibtisch, wählte Anne die Nummer von Peter Zimmerer und fragte nach der Marmeladensorte, die an den Wespen geklebt hatte. Robert beobachtete sie und grinste als Anne die Augen verdrehte. Der Kollege schien wieder mal etwas ausschweifend zu sein. Als Anne auflegte nickte sie zufrieden.
"Zwetschgenmarmelade."
Robert schüttelte ungläubig seinen Kopf.
"Du meinst wirklich, der hat seinen besten Freund auf so eine perverse Art umgebracht, weil er die Hochzeit verhindern wollte."
"Vielleicht will er sich als Tröster jetzt wieder bei der Schmittke anschleichen."
"Das wäre aber mächtig daneben."
"Es gibt krankere Hirne als unglücklich verliebete, Robert. Vielleicht war er von Anfang an eifersüchtiger als alle wissen und die geplante Hochzeit hat seine Hoffnung nun endgültig zunichte gemacht. Denk dran, dass die meisten Morde aus Liebe und Eifersucht begannen werden."
"Du hast Recht. Zumindest spricht momentan alles dafür, dass er es war. Die Frage ist, wie kriegen wir ihn?"
"Ob die Zwetschgenmarmelade als Beweismittel ausreichen würde?"
"An Zwetschgenmarmelade kann ja wohl jeder kommen."
"Ja, aber Peter sagt, sie enthält Apfelpektin, das heisst, es ist auf jeden Fall selbstgemachte. Man wird herausfinden können, ob die Marmelade an den Wespen die selbe ist wie die aus Hartungs Gläsern."
"Wir sollten dringend die Gläser sichern."
"Wir werden versuchen, ob es für einen Haftbefehl reicht."
"Der Richter wird Dich auslachen. Bloss wegen ein paar Gläsern Marmelade."
"Immerhin besteht Verdunkelungsgefahr."
"Dann reicht aber ein Durchsuchungsbefehl.Vielleicht sollten wir erst nochmal zu ihm fahren und ihm ein paar Fragen stellen. Wir brauchen den Ort, an dem das Wespennest war, evtl. Imkerklamotten, die alte Schreibmaschine, mit der der Absender auf dem Paket geschrieben wurde. Vielleicht finden wir noch ein paar schlagkräftigere Beweise."
"Vielleicht sollten wir auch erst seiner Mutter noch ein paar Fragen stellen, deren Antworten ihn überführen könnten."

Frau Hartung bot den beiden Kaffee an und stellte Kuchen auf den Tisch. Anne und Robert lehnten ab. Sie setzten sich auf die Eckbank und Anne fragte:
"Kennen Sie Marion Schmittke?"
Frau Hartung blickte ein wenig unsicher von Robert zu Anne und antwortete:
"Ja sicher, das war doch Thomas Freundin. Was ist mir ihr?"
"Und davor lange Davids Freundin, nicht wahr?"
Die alte Dame begann an ihren Fingernägeln zu zupfen.
"Ja, die Jugend von heute. Sie sind ja auch noch jung. Sie wissen sicher selbst, dass heutzutage nichts mehr von Dauer ist."
"Warum haben Sie mir nicht von ihr erzählt, als ich sie nach gemeinsamen Bekannten von David und Thomas gefragt habe?"
Frau Hartung lehnte sich langsam an die Rückenlehne der Eckbank und dachte kurz nach. Dann setzte sie sich aufrecht und sagte:
"Na, sie sagten doch, die Marion hätte ihn gefunden, da dachte ich mir, den Namen kennen sie ja schon."
"Mögen Sie Marion Schmittke?"
"Ja, sie war schon ein nettes Ding."
"Wie war das für Sie als die beiden sich damals trennten und die Marion plötzlich die Freundin vom Thomas war?"
"Ja, was soll man dazu sagen? Da kann man sich nur raushalten."
"Und wie ging es ihrem Sohn damals?"
Frau Hartungs Stirn legte sich in Falten, ihre Augen wurde feucht, aber sie versuchte die Tränen mit Gewalt zurück zu halten.
"Das war das schlimmste, dass er mir so leid tat."
Ihr Blick verlor sich in der Ferne.
"Er sagte zwar immer, das sei nicht so schlimm, aber als Mutter fühlt man, wenn der Sohn verzweifelt ist. Haben Sie Kinder?"
Sie blickte von Anne, die wortlos den Kopf schüttelte zu Robert, der ebenfalls verneinte.
"Dann verstehen sie nicht, was ich meine, aber Mutter ist man lebenslänglich. Besonders, wenn man weiss, dass das eigene Kind eine nicht so schöne Kindheit hatte."
Anne merkte, dass sie es nur langsam schaffte, die alten Bilder wieder zu verscheuchen. Dann schien sie plötzlich wieder alle Kraft zu mobilisieren und sagte:
"Es macht keinen Sinn den alten Zeiten nachzuhängen. Man muss an morgen denken. Auf jeden Fall ist der David schnell über die Trennung hinweg gekommen. Er ist ein sehr optimistischer, gutmütiger Junge."
"Frau Hartung, wissen Sie, ob Ihr Sohn einen Imker kennt?"
Sie begann wieder an ihren Nägeln zu zupfen.
"Das weiss ich nicht. Er hat aber noch nie davon erzählt. Für so etwas interessiert sich doch die Jugend heute nicht mehr, oder?"
"Ist ihr Sohn sehr häuslich? Ich meine kocht er gerne?"
Frau Hartung guckte erstaunt ob dieser Frage. Dann lächelte sie stolz.
"Nein überhaupt nicht. Er isst immer noch am liebsten bei mir. Warum fragen Sie?"
"Reine Routine."
"Wissen Sie, ob er eine alte Schreibmaschine besitzt?"
Sie sah Anne erschrocken an.
"Was stellen Sie mir für seltsame Fragen?"
"Bitte beantworten Sie meine Frage Frau Hartung."
"Nein, ich erzählte Ihnen doch, dass er Computerspezialist ist. Wer hat denn heute noch eine Schreibmaschine?!"

Anne und Robert verabschiedeten sich und fuhren zurück ins Büro. Im Auto sagte Robert:
"Seltsam, dass sie dieses Beziehungsdrama so runtergespielt hat, wo ihr Sohn doch sagt, dass sie so an der Schmittke gehangen hat und am liebsten sofort Enkelkinder bekommen hätte."
"Sie ist zwischendurch auch ganz schön nervös geworden."
"Ich habe das Gefühl, sie will ihren Sohn decken."
Anne schüttelte den Kopf.
"Ich weiss nicht, irgend etwas stimmt nicht."

Robert besorgte einen Durchsuchungsbefehl für Davids Wohnung. David war völlig entrüstet, ließ die Beamten ins Haus und verschwand selbst. Es wurden insgesamt 14 Gläser Zwetschenmarmelade beschlagnamt. Acht aus den letzten beiden Jahren standen noch in der Küchenniesche, sechs aus den Jahren davor im Keller. Anne und Robert sahen sich ebenfalls in der Wohnung um und fanden im Keller einen Lederkombi und einen Motorradhelm.
"Was meinst Du Robert, da stechen auch keine Wespen durch, oder?"
"Stimmt, ich fürchte nur, wir werden das nicht beweisen können."
"Die Spurensicherung soll auf jeden Fall nach Einstichen, Marmeladenresten und Wespengift suchen."
Plötzlich stand David hinter ihnen.
"Was suchen Sie eigentlich?"
"Wann haben Sie diese Ledersachen zuletzt getragen?"
"Das ist ein paar Jahre her. Ich fahre schon lange keine Motorrad mehr."
"Besitzen Sie eine alte Schreibmaschine?"
David blickte sie ungläubig an.
"Was in Gottes Namen soll ich mit einer Schreibmaschine? Nein, ich habe keine."

Sie fanden keine Schreibmaschine in Davids Wohnung, aber einige Stunden später wussten Sie, dass die Marmelade an den Wespen die gleiche wie die aus David Hartungs Gläsern war, allerdings nicht exakt die selbe. Peter Zimmerer hatte gesagt:
"Das Rezept der Herstellung scheint identisch zu sein und es sind exakt die gleichen Zutaten, aber in der an den Wespen ist ein wenig mehr Zucker."
"Also nicht exakt die selbe?" hatte Anne gefragt.
"Nun ja, ich glaube, man kann damit beweisen, dass sie von der selbsen Person hergestellt wurde, allerdings ist sie vielleicht aus einem anderen Jahr."

Anne und Robert fuhren wieder zu David Hartung. Robert blickte ihm fest in die Augen.
"Wo haben Sie die Wespen ein Nest bauen lassen, Herr Hartung?"
"Sind sie verrückt? Wie kommen Sie darauf?"
"Unser Labor hat festgestellt, dass die Zwetschgenmarmelade, die an den Wespen klebte exakt die selbe ist, die sie in ihren vielen Gläsern haben."
"Sie haben meine Marmeladengläser untersucht?"
David begann plötzlich hysterisch zu lachen.
"Sie glauben wirklich, dass ich mit meinen Marmeladengläsern die Wespen angelockt habe, die Thomas getötet haben?"
"Was sonst macht man mit 12 Gläsern Marmelade, wenn man nicht selber einkocht?"
Er lachte noch lauter.
"Das kann ich Ihnen sagen. Man sammelt sie, weil man es nicht übers Herz bringt sie wegzuschmeißen, wenn die eigene Mutter so für einen sorgt."
"Die Marmelade ist von Ihrer Mutter?"
"Hat sie noch nicht versucht, Ihnen Zwetschgenmarmelade, eingemachte oder getrocknete Früchte , Zwetschgenkuchen oder was man sonst noch so macht, anzudrehen?"
Anne dachte an den Zwetschgenkuchen, den sie bei ihrem ersten Besuch bei Frau Hartung gegessen hatte und der Ihnen bei ihrem zweiten Besuch wieder angeboten wurde. Vielleicht die gleiche Charge wie die, mit der letztendlich Thomas Limberg getötet wurde. Sie fasste sich mit einer Hand an den Hals und fragte:
"Herr Hartung, wissen Sie, ob Ihre Mutter irgendwo eine alte Schreibmaschine hat? Vielleicht von ihrem Vater oder ein Erbstück? Und ob sie einen Imker kennt?"
Plötzlich wurde David kreidebleich.
"Oh mein Gott".
Dann stand er auf und ging nachdenklich im Zimmer umher. Kurz darauf setzte er sich wieder und sprach mit fester Stimme.
"Das ist absurd, meine Mutter bringt doch keinen Menschen um und schon gar nicht meinen besten Freund."
"Er hat die Zukunftspläne ihrer Mutter zerstört. Keine Frau für ihren Sohn mit der schlechten Kindheit, dem es immer gut gehen soll. Keine Enkelkinder für die gequälte Mutter, stattdessen leidet der Sohn. Vielleicht hat sie sich nach dem Tod ihres Vaters geschworen, sie nun für alle Zeit zu beschützen. Mutter ist man lebenslänglich."
David Hartung blickte wieder entsetzt. Er schien diese Worte zu erkennen und auch die Erinnerung an die Reaktion seiner Mutter beim Tod seines Vaters schien ihm plötzlich wieder präsent zu sein.
"Und warum sollte sie dann Thomas umbringen?"
"Sie wollte Rache für den gekränkten Sohn und hatte die Hoffnung ihre Schwiegertochter zurück zu bekommen."
"Das ist doch Quatsch, meine Mutter hat Thomas geliebt wie einen zweiten Sohn."
"Ja, aber nur so lange, er ihren ersten Sohn nicht verletzte. Außerdem haben sie selbst gesagt, dass sie alles für Enkelkinder tun würde."

David verteidigte seine Mutter in einer vehementen Art und Weise vor Anne und Robert, so dass den beiden schnell klar wurde, dass sie von David keine Hilfe zu erwarten hatten.

Sie recherchierten weiter im Umfeld von den Hartungs und erfuhren von den Limbergs, dass Davids Vater eine alte Schreibmaschine besessen hatte, auf der die Kinder früher manchmal geschrieben hatten. Anne und Robert ließen das Haus von Frau Hartung vollständig auf den Kopf stellen. Sie fanden keine Schreibmaschine, keinen Hinweis auf ein Mückennest und auch sonst nichts, was irgendwie mit dem Mord hätte in Verbindung gebracht werden können. Marion Schmittke erinnerte sich, Frau Hartung vor einiger Zeit in der Stadt getroffen und ihr erzählt zu haben, dass es mit ihr und Thomas Limberg zum besten stand. Aber es fehlte jegliche Form der Beweise.

Anne drängte sie zu einem Geständnis und behauptete, dass die Marmelade sie ohnehin überführen würde, aber Frau Hartung und auch ihr Sohn schwiegen fortan und wollten sich künftig nur noch über einen Anwalt äußern. Mark bereite Anne darauf vor, dass die Marmelade zur Überführung nicht ausreichen würde, da Frau Hartung behauptete, manchmal Gläser in den Müll geschmissen zu haben, weil sie zu viel davon hatte. Hin und wieder will sie ihrem Sohn auch welche auf dem Postwege zukommen lassen haben, so dass sie letztendlich jedem in die Hände gefallen sein konnten.

Als Anne Frau Hartung letztmalig verhörte und zurück zu ihrem Auto ging, fühlte sie sich leer und ratlos. Ihr erster Mordfall, der ungeklärt zu den Akten gelegt werden würde. Es gab sicher zahlreiche dieser Art, aber dieser ärgerte sie besonders, da sie den Täter kannte, aber keine ausreichenden Beweise hatte. Ein widerlicher, kaltblütiger Mord an einem jungen Mann, der nicht älter war als sie. Manchmal hasste sie ihren Job.
Davids Mutter schloss die Tür hinter der jungen Polizisten, setzte sich in ihren Lieblingsstuhl, lehnte sich entspannt zurück, schloss die Augen und lächelte wie damals als ihr Mann die Treppe heruntergestürzt war.

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