Theaterpassage


Eiskalt weht der Wind zwischen den Häusern. Vereinzelte Schneeflocken setzen sich auf die weihnachtlich beleuchteten Bäume. Bruno streicht sich fahrig die Eiszapfen aus dem Bart. Die Finger in den abgeschnittenen Handschuhen sind rot gefroren. Er beobachtet das frühabendliche Treiben in der Innenstadt. Eine Mutter mit einem schreienden Kind an der Hand gibt ihm mit mitleidigem Blick ein Fünfmarkstück. Er murmelt ein leises "Danke. Frohe Weihnachten auch." Aber die Frau ist schon um die Ecke des Kaufhofes verschwunden. Bruno geht leicht wankend Richtung Parkhaus.

Dort hat er seit einer Woche ein warmes Plätzchen gefunden. Am Ende eines langen Ganges, in dem sich die Abgase verlieren. Der einzige Nachteil, den er dort hat, ist das ständige Klappen der feuerfesten Stahltür, die etwa fünf Meter weiter den Zutritt zum Untergeschoss des Theaters gewährt.
Bei jedem Klappen der Tür streckt Bruno den Kopf hoch, beobachtet die beflissenen Herren, die ihren Damen die Tür aufhalten. Wenn ihn jemand der Theaterbesucher anblickt, nickt Bruno ihm freundlich zu. Ganz so, als wäre er der Herr des Hauses, der zum abendlichen Fest geladen hat.

Bruno zieht sich wohlig den Schlafsack bis ans Kinn. Legt sich auf die Seite, so braucht er sich nicht bewegen, um die Theaterbesucher zu beobachten. Heute ist Premiere. Walküre. Neue Inszenierung.
Jetzt muss es bald losgehen. Klangfetzen des Orchesters dringen wie durch Watte an sein Ohr. Bruno schließt die Augen, die Schritte der Besucher hören sich jetzt eilig an. Das dumpfe Klappen der Tür dringt nur noch vereinzelt an sein Ohr. Schläfrig lässt Bruno den Kopf sinken. Er hat jetzt gut drei Stunden, in denen er ruhig schlafen kann. Ohne Türengeklapper! Der leichte Benzingeruch, das leise Brummen der Klimaanlage und die zarten wattigen Töne des Orchesters wiegen ihn in den Schlaf.

Plötzlich, ohne Grund, schreckt Bruno hoch. Ein Mann mit quietschenden Gummisohlen nähert sich der Tür. Öffnet sie so leise wie es geht und klemmt einen Keil dazwischen. Brunos aufmerksamer Blick folgt dem Mann, wie er wieder zu seinem Auto geht. Ein roter Lieferwagen, der vor der jetzt offenen Tür steht. Der Mann zieht an der Klappe. Mit einem Ruck öffnen sich die hinteren Türen. Der Mann ist nicht mehr zu sehen. Ein großer Gegenstand erscheint, ein Bild. Bunt - grell - leuchtend. Der Mann trägt es vorsichtig, als wäre es aus Glas, durch die Tür der Theaterpassage. Kommt wieder zurück und holt das nächste Bild aus dem Laderaum des Lieferwagens. Er verschwindet wieder durch die Tür. Erscheint, holt ein Bild. Verschwindet. Bruno kann die Motive nicht erkennen. Das Säuseln der Musik wird leiser. Pause mit Lachshäppchen und Champagner. Der Mann erscheint wieder im Parkhaus und lässt die Tür leise ins Schloss fallen. Er geht zum Auto. Setzt sich auf den Fahrersitz. Sein Feuerzeug blitzt auf. Der Schein des flackernden Feuers erhellt sein Gesicht. Stoppelbart - tief liegende Augen und ein fliehendes Kinn. Der Geruch von angebranntem Tabak dringt bis Bruno vor. Eine Mischung aus Vanille, Orange und Zimt. Genüsslich zieht Bruno den Geruch ein. Den Geruch von Weihnachten.

Die Musik setzt zögerlich ein. Bruno kann die Bläser jetzt ganz deutlich hören. Die Walküre nähert sich dem nächsten Akt. Der Mann sitzt nicht mehr im Auto - die Stahltür ist offen. Ein kalter Hauch streift Brunos Gesicht. Er öffnet die Augen. "Ich stell das mal hier ab. Wenn Sie ein Auge darauf hätten? Danke." Der Mann wartet Brunos Antwort nicht ab. Bruno dreht den Kopf, um das Bild besser zu sehen.
Es ist ein wildes Motiv, mit Bäumen. Bruno setzt sich mühsam auf. Betrachtet die Farben. Schwarze Bäume strecken ihre kahlen Äste in einen grün-grauen Himmel. Vorsichtig berührt Bruno die Leinwand. Er spürt die Unebenheiten der Ölfarbe. Sieht die Risse, die sich durch die dick aufgetragene Farbe ziehen, wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Er streicht an der Kontur eines Baumes entlang. Verweilt mit seinem Zeigefinger am gemalten Horizont. Ganz deutlich sieht er eine Kerze, die auf einem der Äste brennt. Ihr rot-gelber Feuerschein verbreitet ein angenehm warmes Licht. Die Kerze fängt an zu flackern, entzündet eine neue Kerze und so brennen bald hundert Kerzen. Verbreiten ihren funkelnden Schein. Tauchen Brunos Gesicht mal in Licht, mal in Schatten. Ein unglaubliches Glücksgefühl breitet sich in ihm aus. So wohl hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er fühlt sich leicht und beschwingt. Zwei Tränen ziehen eine schmierige Spur in seinem Gesicht. Tropfen von seinem Bart auf den Boden. Vermischen sich mit dem Dreck. Trocknen - als wären sie nie gewesen.

Weihnachtsgeschichte 2001
Claudia Kohlhage

 

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