Sonnenuntergang

Mit lautem Getöse kippte die Staffelei um. Alex schaute ihr nach, wie sie auf den Boden fiel. Das Bild hatte sich gelöst, war aber unbeschädigt. Wie zum Hohn war es so gefallen, dass er es voll im Blickfeld hatte. Aber auch jetzt, in dieser Position, leicht im Schatten, flach auf dem Boden liegend, sah man es deutlich: der schmale Streif am Horizont, da, wo das dunkelblaue Wasser aufhörte und das rote Abendglühen begann, dazwischen hatte sich eine Wölkchenreihe gefangen, schien nicht zu wissen, ob sie im Meer versinken oder in den Himmel entschweben sollte. Und dieser schmale, unfertige Streifen versaute das ganze Bild.

Er bekam die Farbe nicht hin. Hinter den leichten, taumelnden Wolkengebilden mussten sich Wasser und Himmel vereinen. Er wollte diese beiden Elemente zusammenführen, sie ineinander verschmelzen lassen. Ein tiefes Purpur brauchte er. Er wusste genau, wie es aussehen musste. Ganz genau. Aber alles was er bisher zusammengemischt hatte, stimmte nicht mit dem überein, was er sah, wenn er die Augen schloss.

Tagelang hatte er am Wasser gesessen, meistens allein. Die anderen kamen immer kurz vor dem Sonnenuntergang, und kurz danach verschwanden sie wieder. Sie wussten nicht, dass es erst dann wirklich schön wurde. Dann, wenn sich die Wolken zu färben begannen. Erst zart, rosarot, noch leicht golden, dann immer kräftiger werdend, sogen sie das Blau des Wassers zusammen mit den Strahlen der versunkenen Sonne in den Himmel hinauf.

Verzweifelt blickte er auf die Farbpalette in seinen Händen. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass er blutete. Das musste passiert sein, als die Staffelei umfiel. Aus seinem Handballen lief stetig Blut. Alex ging zum Wandschrank, nahm mit geübtem Griff eine kleine steril verpackte Kompresse heraus, öffnete sie mit den Zähnen, drückte sie auf die Wunde und fixierte sie mit einer Binde. Wahrscheinlich hatte er wieder seine Tabletten nicht regelmäßig genommen. Damit hatte er seine Krankheit normalerweise ganz gut im Griff. Gesteigerte Fibrinolyse. Erblich. So etwas ähnliches wie Bluter. Er ging wieder zurück zur Staffelei, richtete sie auf und griff zur Palette.

Erst jetzt sah er, dass Blut in die Farben gelaufen war. Er versuchte, es mit dem Pinsel herauszustreichen, aber es war bereits zu sehr verlaufen. Langsam drehte er die Pinselspitze in der Farbe. Strich ein wenig Blau dazu, rührte und da war sie: Seine Farbe. Sie anzusehen bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Die gleichen schmerzhaften Gefühle, die er hatte, beim Schauspiel des Sonnenuntergangs und danach, wenn Wolken und Meer sich verfärbten, als fiele es ihnen unendlich schwer, die Sonne gehen zu lassen. Diesen wehen Zustand sollte seine Farbe ausdrücken: Trauer, Sehnsucht, aber auch Hoffnung auf den nächsten Tag. Und jetzt hatte er sie. Seine Farbe. Endlich!
"Alex, was ist los? Ich dachte, du schläfst schon lange!"
"Wieso? Wie spät ist es denn?"
"Es ist zwei Uhr morgens. Warum bist du denn nicht im Bett?"
Verwirrt stand Alex von seinem Stuhl auf und strich sich durch das Haar.
"Hast du dich verletzt?" Britta nahm seine Hand. Der Verband war durchgeblutet, schien aber trocken zu sein. Sie ging zum Wandschrank und gab ihm die Tabletten. "Nimm sie! Sofort! Alex, du vergisst sie dauernd!"
"Ist ja schon gut." Er schluckte die Tabletten, spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter und schüttelte sich. "Wie war die Vernissage?"
"Na ja", seine Frau schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und ließ sich in die Couch fallen, "so lala. Deinen Akt in grau habe ich verkauft, und von Betty zwei Landschaften, nichts Berauschendes, aber die Kosten kommen wenigstens rein. Die Leute warten auf Bilder von dir, Alex! Sie mögen dich wirklich. Du glaubst nicht, was ich mir alles anhören muss: Warum ist Alex denn nicht da? Wann zeigst du denn mal wieder was von ihm? Hat er eine Blockade? Wir warten schon so lange. Und so weiter."
"Pass auf, Schatz, das ändert sich jetzt! Ich habe die Farbe, Britta, ich habe sie! Ehrlich! Jetzt male ich dir eine Serie von Sonnenuntergängen, im Meer versinkende Himmel und über dem Wasser tanzende Wolken, die werden sie dir aus den Händen reißen."
"Ich glaube, du hast Fieber." Sie legte ihre kühle Hand auf seine heiße Stirn. "Komm, wir gehen ins Bett. Ich bin hundemüde."
Widerwillig ließ sich Alex ins Schlafzimmer ziehen, als er jedoch lag, schlief er schlagartig ein. Ihren Kuss spürte er schon nicht mehr.

Es folgten verrückte Wochen. Alex malte und malte und malte. Um den ersten Dreier-Zyklus hatte es in den Ausstellungsräumen fast eine Schlägerei gegeben. Daraufhin hatte Britta die Bilder nur noch einzeln angeboten, was die Liebhaber aber keineswegs davon abhielt, zwei oder drei auf einmal zu kaufen. Und obwohl alle nach Alex fragten, konnte Britta ihn nicht dazu bewegen, mit zu den Veranstaltungen zu kommen. "Ach Schatz, das ist deine Aufgabe."
"Ja, schon, aber du könntest auch mal eine Abwechslung gebrauchen. Du bist total blass und ich mache mir langsam Sorgen."
"Quatsch. Mir geht es gut. Wenn ich malen kann, geht es mir gut. Und ich kann malen, oder?"
Daran war nun wirklich kein Zweifel.

In der "Kunst der Gegenwart" hatten sie geschrieben: "Es ist unglaublich, wie Alex Bernstein mit den Farben umgehen kann. Wenn man vor seinen Sonnenuntergängen steht, weiß man nicht, hat er von der Natur, oder die Natur bei ihm abgeschaut."

"Entschuldigung, Frau Bernstein, kann ich aufschließen? Die Leute von der Presse wollen unbedingt schon vorher rein." Britta schreckte aus ihren Gedanken hoch. Klein und zerbrechlich sah sie aus in ihrem schwarzen Kostüm. "Ja, Frau Klein, schließen Sie auf, aber lassen Sie alle auf einmal rein, und verteilen Sie bitte an alle diese Mitteilung."

"Liebe treue Freunde, liebe Kunstliebhaber, liebe Gäste,
ich heiße Sie auf diesem ungewöhnlichen Wege zur letzten Vernissage des Hauses Bernstein herzlich willkommen. Sie werden heute Abend ausschließlich Werke meines Mannes, Alex Bernstein, sehen.
Mein Mann ist gestern Abend verstorben. Er litt an einer erblichen Blutkrankheit. Die Zeit reichte nicht, um die Ausstellung abzusagen.
Ich bin mir sicher, nichts würde meinen Mann mehr freuen, als Ihr heiteres Lachen und freudiges Bewundern seiner Werke.
Alle ausgestellten Bilder sind unverkäuflich.
Britta Bernstein

Barbara Hoos


 

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