Kranichschreie

Der kleine Kranich flog in der Vogelgruppe geschützt zwischen den starken Flügeln seiner Eltern. Vorne bestimmte ein erfahrener alter Vogel die Richtung. Alle anderen ordneten sich wie selbstverständlich zu einem großen schwarzen V, das von einem riesigen Stift an den klaren Märzhimmel gezeichnet schien. Ruhig und sicher zogen sie über die kargen Flächen zu den vertrauten Plätzen. Der raue Wind, die zögernde Frühlingssonne, der fahle Mond und die Sterne trieben sie über graue Berge, zwischen die sich die Häuser frierend duckten. Schmutzige Schneepolster, braune Felder, kahle Bäume sah das Vogeljunge, nur selten entdeckte es etwas Grün. Es sehnte sich nach den satten Farben des Südens und nach der Wärme, aus der sie aufgebrochen waren. Und plötzlich war da dieser Schrei, dieser helle laute Ruf, der kleine Kranich wusste nicht, woher er kam, aber dann hörte er ihn von allen Seiten, und er stimmte mit ein, unbändig kam der Schrei aus seiner kleinen Kehle, voller Lebenslust.

Mit müden Schritten trat Anna ans Fenster und schaute in den Himmel. Sie öffnete es, und ein Lächeln sprang kurz über ihre blassen Züge. "Die Kraniche kommen zurück," sagte sie leise. Er hörte es nicht, wie jeden Abend saß er im Sessel, stumm, vor dem Fernseher bei Bier und Chips. Wie leid sie das alles war! Ihre Blicke trafen sich nicht, es gab keine Worte , die eine Brücke zwischen ihnen schlugen. Sie blickte den Vögeln nach, hörte diesen fantastischen Schrei und fühlte eine Unruhe. Einmal so laut schreien können wie sie, das müsste gut tun, einmal ohne Bedenken und ohne Rücksicht so schrill und ungehemmt sein! Wie die andern dann aufmerken würden, wie sie sich wunderten, wie sie sie endlich einmal hörten! Ihre Gedanken wanderten zurück, Kranicherinnerungen kamen ihr in den Sinn.
Als Kinder hatten sie versucht, diesen Schrei nachzuahmen, später machten sie Wetten, wer die Kraniche als erster hören würde."Wenn die Kraniche ziehen.." die Bilder des Films tauchten in ihr auf. Mit ihrer ersten großen Liebe hatte sie ihn gesehen, danach war das Wort "Kranich" ein Geheimwort für sie geworden, ein Glückswort. Immer wollten sie aneinander denken, beim Schrei der Kraniche, auch wenn sie entfernt voneinander waren.
Anna fror, sie schloss das Fenster. Zum ersten Mal seit sie in dieser dunklen Winter- Müdigkeit gefangen war, hatte sie etwas Intensives gespürt. Ein Schrei hatte sie berührt, sie wusste auf einmal, wie lebendig sie gewesen war und wie im Laufe der Jahre nur noch Routine und Langeweile übrig geblieben waren. Sogar die Helligkeit des März, die ersten wärmenden Sonnenstrahlen, die zaghaften Rufe der Meisen hatte sie in diesem Jahr nicht wahrgenommen. Sie ging zur Garderobe, die schweren grauen Wintermäntel bereiteten ihr Unbehagen. Ein graues Gesicht mit traurigen Augen blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie ging zurück zu ihrem Mann. Was sollte sie tun, was sagen?
Würde er sie verstehen? Sollte sie versuchen, zu erklären, dass sie sich eingemauert fühlte zwischen Mehl- und Zuckertüten und dass sie den Geruch seiner Socken, und seine Art Kartoffeln zu zermatschen nicht mehr ertragen könnte, auch nicht
den Anblick der pedantisch gerafften Gardienen im gegenüberliegenden Fenster das Geräusch der Stanzen in der nahen Fabrik und die aufgemotzten Stiefmütterchen, die jedes Frühjahr in die Vorgärten gepflanzt wurden. Und dass sie Sehnsucht spürte nach einer weiten Landschaft, nach treibenden Wolken und nach den Inseln im Meer, wo die Kraniche sich auf ihrer Reise ausruhten, nach Buchenwäldern mit Teppichen voller Frühlingsblumen und prallen Knospen der Kastanienbäume.
Im Frühjahr und im Herbst brachen die Kraniche auf, mit Schreien, und niemand konnte sie hindern. Sie wusste, der Herbst würde zu spät sein für sie.
Sie schaltete den Fernsehapparat aus, trat vor ihren Mann hin und sagte: "Ich werde fortgehen. Ich werde das alles hier verlassen."
Ungläubig schaute er sie an, dann lachte er laut, dann wollte er einen Schluck aus der Flasche trinken--- dann entriss sie ihm die Bierflasche und schleuderte sie mit aller Kraft gegen den Fernsehapparat, und mit dem Klirren des Glases mischte sich ihr greller unverschämter Schrei.

 

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