Begegnung in den Dünen

Seitenstiche. Schon wieder. Unzufrieden trat er vor den von Salzwasser zerfressenen Holzpfahl. Zischend holte er tief Luft, das blöde Ding war auch noch steinhart. Mit dem linken Arm ruderte er in der Luft, um mit dem rechten seinen schmerzenden Zeh zu massieren. Dabei verlor er das Gleichgewicht und landete im weichen Sand. Jetzt liegen bleiben. Doch mühsam drehte er sich auf die Seite und stand unbeholfen auf. Ruckartig begann er zu laufen. Weiter, los weiter! Lockerer Sand rieselte in seine Turnschuhe. Liebend gern wäre er stehen geblieben, um ihn auszuschütten. Durchhalten! Ich muss es bis zum Leuchtturm schaffen, heute klappt es.

Die Luft stach in seinen Lungen, seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Bei jedem Schritt gaben sie seitlich nach. Ihm war schlecht vor Anstrengung. Obwohl sein Mund gänzlich ausgetrocknet war, meinte er, Schaumflocken an den Lippen zu spüren. Er hielt sich die Hände an seine linke Hüfte. Schon wieder Seitenstechen. Mit letzter Kraft erreichte er eine Bank. Nach Luft ringend, mit Pfeifgeräuschen begleitet, ließ er sich auf die morsche, von der Seeluft ausgeblichene Sitzfläche fallen. In Streichholzgröße konnte er den rot-weiß gestreiften Leuchtturm sehen. Das Blinklicht war an. Es dauerte eine Weile, bis sein Puls wieder eine normale Frequenz hatte. Schweiß lief ihm in kleinen Rinnsalen über das dunkelrot gefärbte Gesicht. Sein Puls pochte laut in seinen Schläfen.

"Na, geht es wieder?"
Erschrocken sah er zur Seite. Etwas weiter hinter ihm saß eine Frau. Lächelnd sah sie zu ihm herüber. Ganz entspannt lehnte sie mit dem Rücken am warmen Sand einer sanft aufsteigenden Düne. Der Wind zauste an ihren langen blonden Haaren, eine feminine Sonnenbrille unterstrich die weiche Linie ihres Gesichtes.
Wann hatte ihn zum letzten Mal eine Frau angesprochen? Vor allen Dingen eine so wunderschöne Frau? Es fiel ihm schwer, den Blick von ihr zu wenden.
"Setzen Sie sich etwas zu mir." forderte sie ihn auf. Es war ihm unangenehm, weil er meinte, unerträglich nach Schweiß zu riechen.
"Ich heiße Gösta. Gösta Jansen." Unwillkürlich hielt er ihr seine verschwitzte Hand hin, doch sie nahm sie nicht. Ihr Blick war auf das Meer gerichtet. "Sind sie allein hier?" versuchte er seine Verlegenheit zu überspielen.
"Nein, mit meinem Freund bin ich hier. Mit meinem allerbesten Freund." Sie pfiff ganz kurz und schon kam aus den Dünen ein kräftiger Schäferhund angaloppiert. "Das ist Dusty. Wir sind unzertrennlich" Sie lachte glücklich. Dusty schnupperte an Göstas Hand, dann leckte er sie zärtlich. Wenigstens einer, der mich mag, dachte er.

"So, nun lauf wieder, du Rabauke." Sie umarmte Dusty und der verschwand wieder schnuppernd im Dünengras. "Mein Name ist Elisabeth."
Himbeereis. Oder Erdbeeren mit Schlagsahne, dachte er, es ist nur schade, dass sie die Sonnenbrille nicht ab nimmt. Ich wüsste so gerne, wie ihre Augen aussehen.
"Machen Sie Urlaub hier?" fragte sie. Sie wendete ihm ihr Gesicht zu, doch nahm sie die Brille nicht ab.
"Ursprünglich hatte ich vor, hier Urlaub zu machen. So richtig, weg vom Arbeitsstress, ohne Handy, ohne Termine, ohne Zeitdruck. Aber als ich hier ankam, lief ich gleich dem hoteleigenen Fitnesstrainer über den Weg. Na ja, und der hat mir versprochen, dass ich als neuer Mensch wieder nach Hause fahre. Mit ca. 25 Kilo weniger."

"Warum grade hier? Es gibt so viele schöne Dinge, die man genießen kann. Ganz entspannt seinen Körper spüren. Wie der Wind die Haare zerzaust, wenn man die Hände in den warmen Sand eintaucht, das Gesicht in die frische Brise hält und die Meeresluft voll von Seetang und Fischgeruch erlebt oder mit nackten Füßen durch die kühle Brandung geht. Das ist doch viel schöner, als sich abzuhetzen um irgendeinem Idealbild hinterher zu rennen."
"Es nervt schon, ich strample mich seit einer Woche hier ab, wie ein Geisteskranker. Alles was ich sehe sind unnötige Kalorien. Und glauben Sie bloß nicht, dass ich in dieser Woche schon mehr als 500g abgenommen hätte."
"Tut es Ihnen denn Leid, dass sie so eine Figur haben?"
"Sie haben gut reden, so eine wunderschöne Frau, mit einer so ansprechenden Figur. "
"Ich finde Sie ganz O.K." sagte sie schlicht.

Wahrscheinlich haben Sie nicht genau hingesehen, wie ich aussehe, wollte er gerade sagen, doch betrachtete Gösta nur irritiert die netteste Frau auf der ganzen Welt, die ihm je begegnet war.
"Hören Sie die Wellen rauschen? Wie mächtig sie sind. Wie ein Lied, das einen immer tiefer in seinen Bann zieht."
Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher. Wenn man auf einer Insel ist, hört man doch ständig, wie die Wellen auf den Strand platschen. Oder? Und doch schloss er die Augen, spürte die Bewegung des Wassers, ein Rhythmus der zum Träumen einlädt. Immer wieder das Gurgeln des Schaumes, immer wieder das Zischen der Gischt. Immer wieder das Donnern der sich überschlagenden Wellen. Immer wieder das Rauschen, immer wieder, immer wieder. Wie der Lauf der Jahreszeiten. Wie es wohl hier im Winter sein wird? Gefrorene Wellen. Eiskrusten auf dem Dünengras. Stille? Nein, beißender Sturmwind auf der Stirn. Der schrille Schrei einer Lachmöve riss ihn aus seinen Gedanken.
"Glauben Sie wirklich, dass Sie ein neuer Mensch sein werden, wenn Sie Ihr Idealgewicht haben?" fragte Elisabeth.

"Ich glaube nicht, dass Sie sich vorstellen können, wie es ist, andauernd angestarrt zu werden. Wieso fragen Sie mich das? Sie sehen so glücklich aus, Sie sind schön, Sie sind schlank und Sie sind bestimmt nicht allein. Was wissen Sie denn schon von meinen Problemen?" Gösta hielt resigniert die Hände vor sein Gesicht. Ihm war zum Heulen zu Mute.
"Ich glaube ganz einfach, dass es viel wichtiger ist, sich so anzunehmen wie man ist, als mit aller Gewalt das zu werden, was einem die Medien, die Arbeitskollegen oder irgendein wildfremder Fitnesstrainer empfehlen. Ich beurteile einen Menschen grundsätzlich nur nach seinen inneren Werten. Vielleicht haben Sie heute Abend Lust, beim Sonnenuntergang mit mir ein schönes kalorienhaltiges Glas Rotwein zu trinken?"

Ein kurzer Pfiff und schon kam Dusty. Mit flinken Fingern legte Elisabeth sein Geschirr an und mit einer Engelsgeduld führte Dusty seine blinde Begleiterin zum gepflasterten Weg zurück. Mit hochrotem Kopf, weit aufgerissen Augen und zitternden Händen verfolgte Gösta ihre zaghaften Schritte. Eines war ihm nun klar geworden, Kalorien hin oder her, er würde den Sonnenuntergang mit neuen Augen sehen und garantiert als neuer Mensch nach Hause fahren.

Anette Klingelhöfer

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